Das Gute und das Schöne. 1:29
haben schon gesehen: Dieses stellt sich gern und viel ungenierter,
als die Moral je es kann, auf den Standpunkt, daß die Natur
an sich gut ist. Daher liebt es eine paradiesis<e Welt, wo sich
die Sinnlichkeit ergehen darf, ohne daß Sünde daraus wird.
Im Schönen heißt es wie in einem Tiroler Lied: „Auf der Alm,
da gibt's kei Polizei.“ Alles Schöne hat ein harmloses Gebiet
sinnlicher Freude; und hierin hängt es noch zusammen mit der
Moral; es bewegt sich gerne und einlässig da, wo die Sinn-
lichkeit unschuldig ist, und läßt ihr freie Hand. „Wo man
singt, da laß dich ruhig nieder, böse Mensc<en haben keine
Lieder.“ Lesen Sie au<ß einmal Uhlands Medtzelsuppenlied!
Da wird es uns urwohl mit den fröhlih Shmausenden, und
niemand denkt dabei an Gemeinheit. =- Das Schöne löst au<
die Fesseln der Sham und mißachtet die Gesehe der im wirk-
lichen Leben nötigen Decenz. Dem Künstler die Darstellung
des Nackten und heitere Bilder der Liebe wehren zu wollen,
wäre eine Tötung aller Kunst und so verwerflich, daß man
darüber gar kein Wort verlieren känn. Wie sollte er das
Wundergebilde des mensc<hlihen Körpers entbehren können.
Wenn er in frohem Weltmut jene Naturwonne walten läßt,
die den Alten gegeben war, griechische Heiterkeit, aphroditischen
Reiz, dionysische Lust, wer mag es ihm verdenken? Nehmen
Sie Danne>ers herrliches Werk, die Ariadne: Nackt sißt sie auf
dem Panther, mit einer römisch stolzen Frechheit, wie sie gründ-
licher niht fein könnte. =
Aber es gibt auch eine Grenze. Wenn die Kunst und Poesie
sich diese freie Sphäre ausbedingt und schafft, so soll sie uns in
der Stimmung halten, daß wir ganz und ausnahmslos in einem
Zustand sind, wo man nicht an die Konflikte des Sinnlichen mit der
moralischen Ordnung zu denken braucht. Gewiß: Die Sinnlichkeit
ist an sich nicht gemein, aber plößlich wird, es anders, wenn ein
Künstler solcher Art aus der Rolle fällt und in die Wirklichkeit
hinüberschielt, wenn er die Grundsäße und Gebräuche des An-
stands, der Verhüllung, der Shamhaftigkeit, wie sie haben ent-
stehen müssen in der menschlihen Gesellschaft, doc< wieder als
giltig annimmt, und auf die Geschlehtsbegierde mit prikelnden
RC