Verhältnis der Kunst zum Cthischen. L71
gelöst erscheinen; er wird sich zu einem Schlußaccord hinbewegen.
Nehmen Sie 3. B. Goethes Faust. Manche haben ihren un-
saubern Kitzel, wenn Mephistopheles seine pikanten Anspielungen
macht; sie denken nicht daran, wie das Drama weiter läuft, wie
es dem armen Grethen geht, das sich dem schönen Gefühl der
Qiebe hingegeben hat. Wo sich eine Handlung so verwidelt,
da wird es Ernst! Da hat der Dichter Fur<tbares zu schildern.
Wenn er in seinem sittlihen Grundgefühl nicht lauter ist, so
wird er da etwas auc< in der Form Uns<hönes machen. Da
also kommen erst die höheren Interessen der Kunst, und da geht
sie auf ihre Weise mit ver Moral und mit der Religion. In
seiner höchsten Form, in der tragischen Poesie, wird das Schöne
ethisch und religibs erscheinen. Die Tragödie zeigt die Jdeale,
nach denen der Mensch zu handeln hat, zeigt wie er fehlt, wie
er frevelt, wie er dafür leidet und wie dieses Leiden, auch wo es
in einem Unverhältnis zur Schuld steht, unsere Ehrfurcht ver-
langt als Ausfluß einer Weltordnung. Und so kehrt die Kunst
in dieser ihrer höchsten Form mit der Moral zur Religion
zurü&. Die echte Tragödie ist religiös, aber ohne Kanzel und
Pfarrer. Die Predigt ist da im ganzen Gange der Handlung
enthalten. So in der Orestie von Sophokles, in Schillers Braut
von Messina und Wallenstein. Die Tragödie gibt uns auf ihre
Weise das Grundgefühl, daß wir verschwinden vor dem unend-
lichen Ganzen; sie erschüttert uns dur< die Majestät des Schisals.
Nie ist in der Kunst und in der Poesie einer eine Größe
geworden, der nicht Kaliber gehabt hat. Kaliber: den Ausdruck
wähl! ih gern, um das gewisse Wuchtige einer bedeutenden
Persönlichkeit auszudrüfen. Wir werden nicht die Pedanten
sein, dem Künstler die Stürme des Lebens nachzure<hnen , aber
im Großen muß ex ein Charakter gewesen sein.
Die großen Dichter hatten immer ethische Wucht. In den
Tragödien von Aesc<hylos, Sophokles, Shakespeare, welch un-
geheurer Ernst, welhe Wahrheit und welches Grundgefühl der
fittlihen Lebensmacht, ohne daß auch nur ein einziges Wort
einen pastoralen Ges<hma> hätte! Wie mächtig frei sind wir
solhem Verkündigen der höchsten Wahrheit gegenüber!