1 Erster Teil. 89. 10.
Wahrheit. Wie verhält sich zu ihr die Schönheit? Was
wahr ist, das ist darum noch lange nicht schön. Gedankengehalt
an fich ist noh lange nicht Schönheit. In dem Ausdruc:
„1 ODöne Gedanken“ nimmt man das Wort ungenau, sonst müßte
der gedanfenreichste Mensch zugleich Künstler sein. Die Kunst,
das Schöne will ja nicht lehren, das ist der Wissens<haft, der
Schule, der Predigt überlassen). Troßdem aber sagen wir:
das Schöne, obwohl ein Schein, ein bloßes Bild, ist doh
fein unwahrer Schein, kein leeres Bild, sondern ein Schein, ein
Bild mit einem Wahrheitskern; was wir in diesem Zusammen-
hang lieber Erscheinung nennen wollen.
Das Schöne hat zunächst nicht nach der Wahrheit zu fragen,
also nicht nach den Naturgesezen. Wenn nur Wahres im
Schönen wäre, dann gäbe es keine Märchen, keine Elfen,
Drachen, Zwerge, Teufel 2c.; das sind ja in der Natur lauter
unmögliche Dinge. Also um die äußere Wahrheit handelt
es fsi< nicht im Schönen, auch nicht um die geschichtliche, aber
um die innere Wahrheit. Alles Schöne ist innerlich wahr,
führt uns, ohne zu dozieren, einen in jeine harmonischen Formen
eingesenkten, eingezauberten wahren Lebensgehalt zu: Der
menschliche Körper wird geschildert mit dem Ausdruck seiner
inneren Zweckmäßigkeit, mit der ganzen Energie seiner Natur.
So selbst in der kleinsten Skizze oder Studie, z. B.- von
Michelangelo. Auch in anderem führt das Schöne mittelbar
nur den Mens<en vor. Nichts ist schön, was nicht innere
mensc<hlihe Seelenwahrheit zu fühlen gibt. Das Schöne ist
ja immer persönlich?). Wenn es diesen inneren Wahrheits-
kern nicht hat, so wird es mit Ausdrücen beurteilt, die aus
dem Wahrheitsleben genommen sind. Dann jagen wir: dieser
Künstler lügt. I< wiederhole also: das Schöne ist ein Sein,
aber dieser Schein als Schein soll wahr sein. Ein Bildhauer,
der mit gefärbtem Marmor schafft, lügt. Ein Maler, der mit
jüßlihen Farben malt, lügt. Ein Haus mit fünf Zoll dien
!) Vgl. oben S. 44, 45.
*) Vgl. oben S. 90 ff.
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