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haben wir ganz harmlose Grazie. Ein rechtes Beispiel der
Anmut ist die mediceische Venus. Die Gestalt weibliher Jugend
mit ihren weicheren Formen bewirkt diesen Reiz ungleich mehr
als die männliche. Ferner liegt er in so manchen italienischen
Bildern und Erzählungen, im fröhlichen Scherzen einer Melodie,
eines Lieds. Vorzüglich aber im Tanz; das sagt uns Goethe
in feiner Ballade: der Gott und die Bajadere:
„Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen,
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.“
Die anspruchslosen, harmlosen Erscheinungen haben von
jeher in der Kunst reichlihsten Eingang gefunden. Unter ihnen
wandelt Gret<en, wie sie ist, ehe sie in den Abgrund hinunter-
gerissen wird. =- Und mit welcher Liebe haben italienische
Meister die Kinder behandelt! Denken Sie nur an die zwei
lieblihen Engelknaben, die unter der sixtinischen Madonna an
der Brüstung sien! Denken Sie auch an die leichte Grazie
antiker Bauten und Geräte, an den Tempel des Lysikrates, an
pompejanische Lampen! Cs ist vornehmlich dieses weite Gebiet
des Heiter-Schönen, das Goethe im Auge hat, wenn er in
„Wahrheit und Dichtung“ die Poesie mit einem Luftballon ver-
gleicht, der uns ohne den Ballast der Erdenmühen empoxrzieht.
Da waltet die Anmut. Sie kann also auch erklärt werden
als weiche, harmlose, von Störung freie Harmonie im Schönen,
übergehend vom Gegenstand auf den Betrachter *). Wir schreiben
sie allem Schönen zu, sofern es die Eigenschaft hat, als ziehe
es uns sc<meichelnd an.
Auf diese ganze Sphäre bezieht sich nun auch die Veräste-
lung des Begriffes Anmut in die Begriffe des Hübschen , Ele-
ganten, Zierlihen, Niedlichen. Hätten wir Zeit, sie zu ver-
folgen, jo wäre es wohl der Mühe wert. Hier kann ic< nur
weniges darüber bemerken.
Niedlich nennen wir das Schöne, wenn sich seine Form
auf ein sehr kleines Volumen beschränkt. Hübsch kommt von
1).S, oben S.. 192.
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