Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

ze Erster Teil... 8 11. 
Umbilden ist niht nur ein Reinigen und Sichten, jondern 
auch ein Ergänzen. Wir legen in den Gegenstand mehr 
hinein, als er hat; wir kommen ihm mit unserer Seele zu Hilfe. 
Unter den Gegenständen der Außenwelt fühlen wir einen Unter- 
schied. Nichts erscheint uns ganz harmonisch wohlgebildet, das 
eine schöner, formgefälliger, vollkommener als das andere. 
Aus diesem Shöneren machen wir, indem wir noch etwas hin- 
zuthun, ein wirklich ganz unbedingt Schönes, das uns vorfommt, 
als sähen wir es wirklih. Es ist das Erzeugnis des im Reflex 
vershönernden Spiegels in uns. 
Die Kraft nun, vermöge welcher jeder Künstler und jeder 
zum Schönen fähige Mensc< diesen Verklärungsakt vollzieht, 
nennen wir Phantasie. Sie ist nicht eigentliche Schöpferin 
des Schönen, sie braucht einen Gegenstand, der ihr Eigenschaften 
entgegenbringt, aber sie selbst thut do< das Beste, sie erst macht, 
daß diese Eigenschaften schön erscheinen. Sie ist das Vermögen 
des Schauens, das Vermögen, das Schöne in die Dinge hinein- 
zushauen. Sie ist das ästhetische Gewissen. Sie suppliert un- 
bewußt, wo Naturschönes, und richtet, wo gewollt Schönes vor- 
liegt. Wir verstehen darunter das Ganze der Kräfte, wodur< 
Schönes entsteht, Alles inbegriffen, was der Künstler und jeder 
Mensch von Scönheitssinn besigen muß. Sauen heißt Phan- 
tasie haben. Wir nehmen das Wort sehr intensiv. Ein griechischer 
Scriftsteller sagt: „In der Jphigenie hat Euripides die Erinnyen 
geschaut.“ Wer uns nicht schauen macht, der ist kein Künstler. 
Wir stoßen hier aber auf ein unlösbares Rätsel. Die von 
der Phantasie geschaffenen Formen können nur aus der Erfahrung 
stammen und stehen doch über aller Erfahrung. Das ist das 
Wunderbare. Sie sieht, was sie nie gesehen hat. Und sie spürt 
sofort, wo es in der Natur fehlt; sie scheidet aus, ergänzt und 
erfindet Neues hinzu. Aber woher hat sie das? Wie erflärt 
sich ihr hellsichtiges Schauen? Woher bringt sie dieses Etwas, 
das zugleih Maßstab, Supplement und Korrektiv ist? Da liegt 
das Dunkel. Wie kommen wir zu dem Urteil: das ist schön, 
wenn es doh in der Natur keinen vollkommen schönen Gegen- 
stand gibt? Wir sind in der Natur (von der Kunst reden wir 
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