Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Das Vermögen der Phantasie. 2 ') 
ja noh nicht) dem eigentlih Schönen nie begegnet und wissen 
doch, wie es ist, sonst würden wir nicht urteilen. Die abstrakten 
Begrisse nehmen wir aus uns; und das ist natürlich, die können 
wir in der Wirklichkeit nie vorfinden, aber das Jdeal im 
ästhetischen Gebiet ist ja sinnenfällig. Also sehen wir in unserem 
„Znneren etwas, was wir in der Außenwelt nie gesehen haben, 
und doch ist es nicht da, wenn es nicht ein Gegenstand wet. 
Schiller hat die Schweiz nicht gesehen und nur, was er 
hörte und las, zu seinem Tell benußt. Wie viel mußte er aus 
der bloßen Vorstellung mitbringen, um so bildmäßig zu gestalten! 
Vom Rheinfall schreibt Goethe, über diesen Strudeln, über dieser 
fur<tbar donnernden Welt sei ihm Scillers Taucher eingefallen, 
und er habe sich fragen müssen, wo Schiller das her habe, wie 
er das so zu schildern vermochte. Siller hatte aber dafür gar 
nichts, als daß er man<hmal da und dort an einem Wehr, an 
einer Mühle den Sturz oder in einem Bergthal einen kleinen 
Gießbac<h gesehen; und das reichte hin, ihn zu weden. 
Shakespeare dichtet gerade, als ob er aus lauter Erfahrung 
all die verschiedenen Charaktere kännte und daher auch wüßte, 
wie es aussieht in einem Bösewicht. Aber so hat er es doch 
nie erlebt. Denken Sie an Jago, Richard I11l., Macbeth. Shake- 
speare besibt das Erfahrungsmäßige ohne Erfahrung. Das ist 
das Schauen der Phantasie. Sie wissen, was Goethe von ihm 
sagt: „Shakespeare gesellt sich zum Weltgeist.“ Und weiter können 
wir hier nicht. Das Genie scheint der Vertraute des Weltgeistes, 
der ihn inspiriert, wie die Dinge aussehen, ehe irgend ein Mensch 
das mit Augen erfaßt hat. Woher wir dieses Wissen um die 
Urdinge bringen, fragen Sie das, so habe ich keine Antwort 
als: weil wir aus demselben Lebenszentrum stammen. 
Der mensc<lic<he Geist muß seine Heimat in dem geheimen 
Sc<hoß aller Wesen haben und daraus sein Schaffen holen. Es 
ist ihm, als ob er es noch von daher wisse, wie ihre Gestalt 
ursprünglich hätte werden sollen. Das ist traumhaft gesprochen, 
aber man kann es nicht besser. Wir kommen aus derselben 
Natur, woraus Baum, Luft und Stein hervorwächst. Wir ge- 
hören derselben Menschheit an, welcher alle Charaktere ange- 
Vischer, Das Schöne und die Kunt. * 
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