210 Erster Teil. 811.
hören; und weil also alles, was existiert, uns blutsverwandt ist,
jo stehen bedeutende Geister in einem innigen Verhältnis zum
Weltsysteme, sie sehen ins Zentrum. Dies führt nun zurück
zur bekannten Fiktion Platos. Es kann gewiß nicht so sein,
wie er es sagt -- und es ist ihm ja auch nicht buchstäblich ernst
damit --- denno<h ist so etwas eigentümlich Schlagendes darin.
Er jagt im Phädros ungefähr folgendes: Unsere Seelen sind
vor ihrem Eintritt in diese Welt an einem seligen Ort gewesen.
Dort in unserer Präexistenz haben sie die Urbilder des Schönen
in ihrer leuchtenden Herrlichkeit angeschaut. Dann sind sie zur
Erdenwelt herabgefallen in die Kerkerwände unserer Körper.
Wenn uns nun hier etwas auch nur relativ Schönes begegnet,
jo fällt uns zu unserem Schre>en und seligen Staunen ein,
was wir dort oben einst geschaut haben. Es ist als ob in uns
etwas wäre wie eine Erinnerung aus einer unbekannten Welt
der Schönheit.
Die Griechen müssen das schönste Volk von der Welt ge-
wesen sein, aber so schön wie ihre Statuen waren sie doch nicht.
Also auch ihre Künstler mußten dur< Genialität ergänzen, was
sie um sich sahen. Und diese Gabe besaßen sie in vollem Maße:
wir bewundern sie in ihrem Finden der Urbilder.
Betrachten wir dagegen Völker und Menschen, die nach
dieser Seite verstümmelt sind, deren Wesen eine unerwartete
Lücke hat! Da müssen wir wieder bei uns selbst einkehren.
Vielleicht ist es gut, daß unsere altdeutschen Künstler, Sc<on-
gauer, Zeitblom, Albrecht Dürer, Lukas Kranach u. a. die Antike
nicht kannten. Wer weiß, ob sie dann ihre kernige Kraft nicht
eingebüßt hätten? Aber ist es deshalb fals<, wenn man ihren
Mangel nennt? Von Dürer sprac< ich s<on *). Wie unschuldig
hat er seine Modelle gewählt! Er ist ein wunderbares Genie
nach den verschiedensten Seiten, ein Zeichner, wie die Welt
feinen zweiten aufzuweisen hat. Wie dem sein Griffel läuft!
Lernen Sie ihn ganz kennen! Sie finden bei ihm eine un-
geheure Charakteristik, einen Ausdruck allertiefster Empfindung !
!) Vgl. oben S. 13.