Plato. Die Urbilder. Altdeutsche Kunst. 211
Betrachten Sie in seiner Passion den Bece-homo, wie er da-
figt ! Man sieht: auf ihm liegt der ganze Schmerz der Sünden
aller Welt. Was ist das eine Gestalt, und zu welchem Tiefen
reißt sie uns hin! Dann in seiner Apokalypse die dreinhauenden
Engel! Und seine herrlichen Bildnisse, seine unendlihe Er-
findung in Figurengruppen und -- was gar nicht zu untershäßen
ist = in Arabesken! Und dieser Künstlergenius hat gegenüber
der mens<lihen Gestalt jenes Jdeal nicht in sich gehabt, oder
do< nicht gewedt. Darin zeigt er nicht selten vollständigen
Mangel an Ges<hma>; er bringt uns oft Häßlichkeiten , die er
für schön hält, daß man's nicht glauben sollte. Cbenso ver-
halten siß L. Kranach u. a., sie haben das Rektifizierende nicht
im Kopf, sie haben kein Kriterium, um das re<hte Modell zu
wählen und das Urbild der menschlichen Gestalt zu finden. Da
sieht man 3. B. einen naten Adam, der hat Säbelbeine (es
ist ni<t anzusehen) oder Apostel mit Philistergesihtern. ---
Anders ist es teilweise mit Holbein: ihm steigt oft etwas auf.
Er muß von den Ztalienern geweckt sein; es ist, als ob Leo-
nardo da Vinci auf ihn gewirkt hätte. Außerdem ist unter den
Bildnern einer, der dies von den Jtalienern hat: Peter Vischer.
Und au< Dürer wird ja berührt davon, in Venedig zwar nur
wenig, aber auf seiner niederländischen Reise hat er italienische
Arbeiten des hoch entwickelten cinquecentistischen Stils gesehen,
und er nimmt von da an wiederholte Anläufe zum Großen,
äußert sich auch einmal in diesem Sinn.
Nehmen wir alles in allem, so ist jedenfalls zu sagen: wir
Deutsche waren darin Barbaren und mußten erst dur< die
Griechen und Italiener gewe>t werden.
Die Urbild erzeugende Kraft ist in der Mens<heit über-
haupt sehr ungleich vertreten. Diejenigen Meister, in denen sie
mit ihrem ganzen Maße spezifisc< wirkt, die werden sich be-
wußter als andere, daß in der Natur draußen eigentlich das
ganz Schöne nicht ist; sie treten deshalb zurü> und erzeugen
ein Neues aus Erinnerungsbildern, die wohl aus der natürlichen
Außenwelt stammen, die sie aber umgewandelt, umgeläutert
haben zu reiner, harmonischer Formenschönheit. Die in ihnen