Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Historische Richtungen. Die allgemeine Phantasie. Mythus und Sage. 219 
ihnen nicht ein Bild vorschwebte von dem, was werden soll. 
Die Raupe des Hirs<käfers mac<t das Gespinst ihrer Puppe 
so groß, daß später die Hörner darin Platz haben. Das wäre 
ohne Vorstellung der neuen Gestalt niht mögli<h. Der Hund 
träumt. Er le>t nach der Speise: er hat also Phantasie, stellt 
sie sih vor. Wenn er dies nicht könnte, würde er sich nicht 
darauf freuen. Und so auc< der Mensch. Ganz phantasielos 
ist keiner. Jeder hofft und fürchtet. Es gäbe keine Leidenschaft, 
keinen Schmerz, kein Glük ohne Phantasie. Sie zieht durch 
all unser Thun. Ohne sie könnte kein Mens< einen Bekannten 
erkennen; im Nu kommt das Erinnerungsbild. 
Alle Mens<en entdefen und genießen das vorhandene 
Schöne in Natur und Kunst; dazu befähigt sie die Phantasie und 
die nachschaffende Kraft, die in ihr wirksam ist. Diese ihnen 
angeborene Gabe, die nur einiger Bildung bedarf, befähigt sie 
zu erkennen, ob eine Landschaft, ein Baum, eine Tier- oder 
Mensc<engestalt schön ist. Die allgemeine, allen eigene Phantasie 
verhält sich aber gegenüber dem vorgefundenen schönen Gegen- 
stand nie ganz frei von stoffartigem Interesse; sie bleibt mit 
ihm dunkel befangen, pathologis< verflo<ten; sie ist stark vermischt 
mit Wunsch, Begierde oder Abscheu. -- Allein sie hat es ja 
nicht nur mit vorhandener Schönheit zu thun, sie ist auch bis 
auf einen gewissen Grad produktiv. Alle Religion besteht zu 
großem Teil aus Phantasiebildern, welhe Symbole für geahnte 
reine Wahrheiten sind *). Was wir Mythus und Sage nennen, 
ist ehrwürdig naives Gedicht uralter Völkerahnung. Die Götter 
der Egypter, Perser, Griechen, Römer, Deutschen, was sind 
sie anderes als Gestalten der Phantasie? Der mythis<e Sinn 
dichtet allgemeine Naturkräfte in übermenschliche Personen um. 
Und einem Helden, einem Religionsstifter webt sie eine Glorie 
von Wundern um das Haupt. So hat sich an die Religion 
von jeher die Sage geknüpft, d. h. die Verklärung der vor- 
geschichtlichen Zeiten eines Volkes. Sie tritt aber auch in der 
wirklichen Geschichte immer wieder ein. Denken Sie an die 
1) Siehe oben S. 153 ff.
	        
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