Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

Die besondere Phantasie. Jhre Schuld gegenüber der allgemeinen. 221 
hat in sich ein ästhetisches Bild erzeugt; aber das frommt den 
anderen nichts, wenn es nicht Gestalt gewinnt. Das Volk, mit 
dem er einer Mens<heit angehört, könnte das wahrhaft Schöne 
niemals hören oder schauen, wenn er die Hände in den Schoß 
legen würde. Daher ist ein Künstler, der faulenzt, ein un- 
moralijher Mens<. Er ist mehr no< zum Fleiße verpflichtet 
als der gewöhnliche Kopf. Er soll sein Talent nicht unter den 
Scheffel stellen. Sagt man: noblesse oblige, so kann man 
mit noZ mehr Recht sagen: talent oblige. Die Völker er- 
warten mit NRec<t von ihren höher begabten Geistern, daß sie 
herausgeben, was sie im Innern Schönes haben; sie harren 
darauf und fordern es. Sie rühmen sich ihrer großen Söhne, 
und sie dürfen es. Jeder hat zwar nur einen Vater und nur 
eine Mutter, aber diese sind Kinder ihres Volkes, und so 
pulsiert dieses Blut im ganzen Volk. Daher steht er zweifellos 
in Schuld bei ihm. Und diese Schuld fühlt der rechte Künstler 
auch als notwendigen Sporn. Er kann nicht ruhen, muß mit- 
teilen; es läßt ihn nicht schlafen. Was wir ihm eigentlich ganz 
zu gut halten, ist Stolz und Ehrgeiz; und wir können es nach- 
sehen, wenn dazu etwas Eitelkeit kommt. Wer aus voller 
Phantasie schafft, hat in sich shon ein Publikum. Zndem er 
sinnt und dichtet, schaut er innerlich sogleich einen Kreis von 
jolhen, die es hören und sehen wollen, fragt er sich sogleich: 
wie wird es ihnen gefallen? 
Er sagt zwar zunächst mit Recht, er sei von seinem innern 
Wetter abhängig; und gewiß: es läßt sich nicht erzwingen, was 
dur< Phantasie entsteht. Das ist ja ein Wurf der Znspiration. 
Wir haben gesehen: die Phantasie schafft durchaus anders als der 
Verstand. Verstandesreihen kann ih, wenn ih mir Mühe gebe, 
aljo auf dem Wege der Absicht, hervorbringen und fortführen. In 
aller Kunst hingegen, und zwar zunächst in der Erfindung, nußt 
die Absicht nichts. Das taucht auf wie ein Gesicht"); das ist nicht 
zu machen, sondern es wird. Wenn Sie Shakespeare lesen, so 
mögen Sie oft denken: mein Gott, der Mann phantasiert, das 
H. Val. oben S. 6, 3, 166, 214:
	        
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