Die Kunst. Jhr Bedarf rohen und toten Material3. 295
So weit hat er eben gemeißelt und weggefeilt. Das ist bereits
erörtert. Die Form liegt eben da, wo der Stoff aufhört;
dieser ist bloß passiver Träger *).
Stoff bedeutet hier nur, was es auch im ganz ordinären
Sinn bedeutet: Stein, Holz, Leinwand, Färbmaterien, Metalle,
Gedärme von Tieren.
Der Stoff muß -- wohl gemerkt! = roh und tot sein,
sonst läßt er nicht mit sich anfangen, was der Künstler will,
und bringt Störungen.
„Roh und tot“. Es gibt zwar nichts an sich Rohes, Un-
geformtes. Auch der Stein ist geformt; er hat sein Korn, seine
Textur, und ebenso das Metall. Das Holz ist zwar nicht mehr
lebendig, aber es trägt in seinem vertrockneten , vegetabilischen
Faserwerk die Gestalt des Lebens. Die aus Pflanzen oder Erde
oder aus tierischer Materie bereiteten Farben haben auch ihre
gewisse Form. Die Bestandteile dieser Stoffe sind jedoch in
diesem Verhältnis roh und tot; denn es kann damit eine ganz
andere Form gesc<affen werden. Die Form, die der Stoff vor-
her schon hat, darf direkt ästhetis<; mit der, die ihm nun auf-
gelegt wird, nichts zu schaffen haben. Und tot soll er sein,
d. h. unorganisc< oder abgestorben organisch.
Aber die Dichtkunst ? Können wir denn auch die Sprache
rohen und toten Stoff heißen? Da wird die Sache schwieriger.
I< habe schon gesagt, der Dichter hat eigentli< kein Material
mehr*). Die Sprache dient ihm als Vehikel. Doch im über-
tragenen Sinne bleibt der Ausdru> Stoff oder Material auch
hierfür gültig. -- An sich nun ist die Sprache, dieses erstaunlich
feine Produkt des Geistes, des Vernunftinstinktes der Völker, dieser
Wunderbau, gewiß nichts Rohes, aber gegenüber dem, was der
Dichter daraus macht. So, wie sie im gewöhnlichen Alltagsbrauche
lebt, wie sie dem nächsten Bedürfnis des Mensc<en dient, kann
er sie niht brauchen; er muß sie gänzlich ums<haffen. In der
gewöhnlichen Konversationssprache schwimmen zwar eine Menge
1)2Ngl. oben: S. 52; 54.
2) Vgl. S. 22.
Vischer, Da3 Schöne und die Kunst
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