Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

246 Zweiter Teil. 8 2. 
Dieser Vorzug der Natur bleibt wesentlih und wirkend , wenn 
sich auch immer wieder fühlbar macht, daß sie ihre Frische und 
Lebendigkeit bezahlt mit dem teuren Preis von tausend und 
tausend Gebrechen, die ihr anhängen und uns hindern, sie schön 
zu finden. Gewiß: ihre Schönheit ist immer so oder so ge- 
trübt und bes<hwert, denn das Leben ist ihr immer auch ein 
Leiden, ein Dru>. Aber wir können ja nicht über sie hinaus, 
selbst wenn wir meinen, Phantasiegeburten zu erfinden. Wir 
verdanken ihr alle Formen. Das Schöne soll sich vom Wahren 
nicht entfernen, und die Natur gibt das Wahre. Sie bleibt doch 
absolutes Vorbild und Korrektiv der Kunst. 
Dies führt uns nun auf eine Debatte, die seit mehr als 
zwei Jahrtausenden die Geister erregt, auf die Streitfrage: Ist 
die Kunst Naturnac<hahmung oder nicht? Soll sie realistisch 
sein oder idealistisch? 
Die Antwort kann nicht anders lauten als: ja und nein. 
Sie ist naturnac<hahmend und soll es sein, weil wir eine andere 
Formenwelt gar nicht haben, als die der Natur; sie ist es aber 
nicht und joll es nicht sein, weil sie in der Natur ein wahr- 
haft Reins<hönes nicht findet; am relativ Schönsten in der 
Natur muß sie eine Umbildung vornehmen. Nachzuahmen sind 
die reinen, ursprünglichen Intentionen der Natur, nicht nachzu- 
ahmen ihre Schla>ken, die Ansaßpunkte des Todes. Sie wissen 
ja, wie es geht bei falschen Alternativen, die ein „Entweder- 
oder“ verlangen, wie da die Menschen sind. Keinem fällt es 
ein, zu entgegnen: warum sagt ihr nicht lieber: „sowohl als 
auch“? Jhr braucht ja keine Alternative. 
Man hatte im vorigen Jahrhundert den griechischen Philo- 
jophen Aristoteles zu einem wahren Geseßgeber in Kunst und 
Schönheit und namentlich sein Werk über die Dichtkunst zu 
einem unantastbaren Codex erhoben. Nun sagt er, wie Plato, 
die Kunst sei -iv7315, und so rief jezt alles: „da sieht man's: 
Aristoteles stellt die Naturna<hahmung als Prinzip auf; also 
kann es nicht fehlen“. Sehen Sie aber näher hin, so finden 
Sie, daß er unter 1ip7q35 etwas ganz anderes versteht und 
zwar: zur Vorstellung bringen, objektiv schildern auf Grund
	        
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