Charakter des Kunstwerks. Korrektheit. 959
Die Forderung, daß das Kunstwerk aussehen soll wie ein
Naturwerk, will aber also nicht sagen, daß es täuschen soll wie
ein solches. Das thut die Wachsfigur, wenigstens auf einen
Augenbli>*). Die Kunst will und soll das dur<aus nicht ver-
suchen; sie will und soll ein verklärtes Bild der Welt geben,
ein Bild, das keine gemeine Wahrheit hat, das wesentlich Sc<ein
ist. Der Schein ist ihre Losung; das muß uns immer bewußt
bleiben und bedarf daher der Wiederholung*?). Nur dur< den
Schein kann sie dieses verklärte Bild der Dinge geben.
Nun hätten wir noch die Frage, ob eine wesentliche Eigen:
schaft des Meisters Korrektheit ist. Es wäre interessant, dabei
zu verweilen, aber ih muß vorwärts gelangen und kann mich
nur auf wenige Bemerkungen hierüber einlassen. Ein Werk,
das bloß korrekt ist, bedeutet wenig oder nichts. Auf das
äußerste korrekt sind auc<ß die Meister nicht; sie opfern manch-
mal eine Richtigkeit einem höheren ästhetis<en Motive; sie
zeihnen, malen mitunter einen Fehler, etwas, das nach Natur-
geseßen, Raumgeseßen so nicht sein kann, weil sie jekt dieser
Wirkung bedürfen. Man setzt 3. B. an der sixtinischen Madonna
aus, daß man nicht absehen könne, wohin der gebogene Arm
des Kindes eigentlich kommt. Das hat aber Raphael ganz gut
gewußt, er hat es eben so gebraucht. Das .ist Künstlerfreiheit.
Und der Dichter? Seine Kunst verlangt zwar, wie schon
zugegeben ist, am wenigsten eigentlihe Schule, aber auch er
bedarf der Technik, auch er ist an Regeln gebunden, die sich
festgestellt haben. Seine Verse sollen recht sein. Und doch
haben sich die größten Dichter manc<hmal starke Lizenzen erlaubt.
In Goethes und Schillers Gedichten finden sich viele fehlerhafte
Verse und falsche Reime. Wir dürfen heute niht mehr so
kühn vorgehen, uns nicht mehr so manche Freiheiten und Nach-
lässigfeiten im Reime und in der Füßezahl der Verse gestatten.
In Schillers Dramen kann man eine ziemliche Aehrenlese von
Sechsfüßlerjamben halten. Allein warum ist man darin nicht
?) Vgl. oben S. 249.
2?) Val. oben S. 50 ff., 158.