304 Zweiter Teil. 85.
und vielleiht noh mehr dem Bildhauer, denn vor seinem Auge
steht die Welt vollkommen jächlich, vollkommen objektiv da.
Ferner bedenken Sie die Anziehung, die zwischen Lyrif und
Musik waltet. Sie kommt davon her, daß beide innerlich ver-
wandt sind. Die Musik ist ja Stimmungskunst und die Lyrik
Stimmungspoesie; beide sind also ganz besonders recht sub-
jeftiv.
Dagegen also das Drama: die Poesie der Poesie, die
Quintessenz, der gegorene Wein der Poesie. Da ist die Poesie
am meisten sie selbst, weil sie hier die Welt, die Ereignisse, die
Objekte darstellt, wie sie von den Centren menschlihen Willens
bewegt werden, wie sie zu den jubjektiven Kräften bezogen sind,
weil also hier die höchste Vereinigung des Subjektiven und
Objektiven stattfindet.
So viel hier über die Zweige der Dichtkunst.
Jeßt muß noch die Rede sein von den unselbständigen,
unfreien, bloß anhängenden Künsten und ihrem Unter-
schied von den freien, selbständigen. Dies ist eine uralte Distink-
tion. Sie kommt schon vor bei den Kir<envätern, von denen
man es nicht erwarten sollte, daß sie auf Nesthetisches eingehen.
So spricht bereits der gute Augustin (der freilich klassische
Bildung hatte) von pulchritudo vaga, also einer Schönheit,
die frei, s<webend, nicht an etwas gebunden, sondern für sich
selber da ist, und von pulchritudo adhaerens, einer Schönheit,
die geknüpft ist an ein anderes, was nicht zu ihr gehört.
Sc<on ihr Name bekundet, daß die anhängenden Künste
nicht auf der Höhe der freien stehen. Aber wir müssen ihren
Wert ganz und fern von jeder Untershäßung erkennen. Hier
jedoch fann ich nur einen skizzenhaften Ueberblick geben.
Cin Grund, .warum wir die Schönheit, die hier in Rede
steht, „bloß anhängend“ nennen, liegt darin, daß sie hier nicht
rein um ihrer selbst willen auftritt, sondern bloß, um einen
Gegenstand zu s<hmücen, der dem Bedürfnis und der Bequem-
li<feit dient. Die Schönheit ist an sich zwecklos, ist Selbst-
zwe>, aber sie baut, sie heftet, s<hmiegt sih auch an Dinge,
die zu einem anderen, außerästhetischen Zwecke da iind, und er-