Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

13 Einleitung. 
Anatomie studieren, sondern studiert haben*). So möchte ich 
allgemein vom Künstler sagen: Er soll über das Schöne nicht 
nachdenken, sondern nac<geda<ht haben. Das wird ihm bei 
seinem Schaffen wenigstens negativ dienlich sein, wird ihn vor 
Fehlshritten bewahren. Karstens 3. B. hat nac< Kant die Be- 
griffe von Raum und Zeit gemalt. Dies wäre unterblieben, 
wenn er auch nur das ABC der Aesthetik in sih aufgenommen 
hätte. Hets< hat Maria gemalt, wie sie mit der Gemahlin 
des Pontius Pilatus wandelt und sie von der Unsterblichkeit 
der Seele überzeugt. " Auch Wie werden gemalt. Das geht 
ja doc< nicht. Malerisc< darstellen, was nur poetisch darstellbar, | 
oder nur poetisch wirksam ist, dies und anderer Unsinn würde " 
nicht so leiht vorfommen, wenn die Künstler weniger Sc<eue 
trügen, ihr bewußtes Gedankenleben und dabei ihre ästhetischen 
Begriffe etwas auszubilden. Sie würden dann auch besser 
wissen, was eine Kunstgattung leisten kann und was nicht. Die 
Phantasie des Scaffenden ist nicht so wehleidig, daß ihr 
Bildung sc<aden könnte. Kunst und Kunstwissensc<haft gehören 
zusammen. Denken, Forschen ist auch ein Produzieren. Nur 
in der Wechselwirkung werden beide gedeihen. 
I< habe gesagt: unser Gegenstand, das Schöne, ist heiter 
und sinnenerfreulich. Das aber wird auc< immer wieder unser 
mühevollesz Denken über ihn erfrischen. Uns beschäftigt das 
heitere Reich der reinen Formen, das Reich der zweiten S<ö- 
pfung, welche von der fühlenden Mens<<henseele in die erste hinein- 
gezaubert wird. 
Die Kunst zeigt uns dieselben Formen, welche die Natar 
geschaffen hat. Der Mensc< kann eine eigentlich neue Gestalt 
nicht erfinden. Alles, was er z. B. in Karikaturen Erstaunliches 
hervorbringt, ist nur tolle Zusammensezung von Naturformen. 
Aber die Erzeugnisse der Kunst sind frei von dem Druc, der 
in der Wirklichkeit auf den Naturformen liegt. Sie sind hell, 
| 1) Michelangelo hat zu viel Anatomie studiert. Weil er aber ein großes 
1 Genie war, hat es ihn natürlich nicht verderbt, es ist ihm nur anzuspüren. 
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