Full text: Das Schöne und die Kunst (1. Reihe)

54 Erster Teil. 8 4. 
daran denken Sie nicht, wenn Sie seine Gesamtwirkung, wie 
sie in uns übergeht, im Auge haben. 
So ist die Form ein geistiger Mantel, der über die Materie 
geworfen wird. Doch freilich, das in diesem Vergleich gebrauchte 
Bild ist immer noh zu sinnlich. Sagen wir also: die ästhetische 
Form ist ein vorhandenes Nichts am Sinnlichen, das geistig 
wirkt, ein körperliches Negativ, das zu einem Positiv wird, aljo 
Hloßes Bild, Schein. aber, wie geiaat, nicht leerer 
Schein, sondern Erscheinung. Wir gehen mit unseren Ge- 
danfen gar nicht dahinter. An einer Statue beschäftigt uns 
nicht ihre Masse, an einer lebendigen Gestalt nicht ihre innere 
Körperlichkeit. Sie spielt zwar mit im ästhetis<en Gefühl, aber 
ganz leise und nicht so, daß wir uns näher darauf einließen; 
wir bleiben auf die Form konzentriert. 
Das Schöne liegt also in der Form, und die Form, haben 
wir gesagt, ist ein einheitlihes Zusammensein von 
Stoffteilen. Jett könnte es scheinen, als ob sich daraus 
ergeben müßte, daß das Schöne mathematischer Natur ist. 
Wenn man einfach sagt: das Schöne liegt in den Verhältnisjen und 
die Einheit, welche dur< dieselben hindurchgeht, begründet Har- 
monie, so könnte es scheinen, das Schöne sei ganz begründet in 
quantitativen Verhältnissen, in meßbaren Größen, es sei rein 
formal. 
Veberbli>en wir nun einmal alle Gebiete der Wissens<aft. 
Wo kommt denn Form vor, welche pure Form und ohne jeden 
Inhalt wäre? Nirgends als in der Mathematik, in der reinen 
Lehre von den Größen. Diese haben aber gar keine Beziehung 
zu einander. Die Zahl 30 verhält siß gegen die Zahl 33 
absolut gleichgültig. Wenn die Mathematik anfängt, diese 
Zahlen in Verhältnisse zu seßen, so läßt sie das ganz kalt, sie 
sind vein tot. Die eine Seite des Dreie>s steht zur anderen 
absolut in gar keinem inneren Verhältnis; jene Linie will von 
dieser Linie rein nichts. Die Mathematik abstrahiert von allem 
Qualitativen. 
Nun aber ist nicht zu verkennen, daß sie im Schönen eine 
Rolle spielt.
	        
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