Einfühlung in bloße Formen. 71
Die Horizontale. Wodurch wirkt denn das Meer jo wundexr-
bar auf die Seele? Es ist ganz einfac<h die ausgebreitete Fläche,
die sich so lange fortseßt, daß unjere Phantasie in Bewegung
fommt und den Eindru>, als ob die Linien ins Grenzenlose
fortfliehen würden, das Gefühl der Unendlichkeit gewinnt. Dabei
wirken natürlich Lichter und Farben mit, aber das ist das Grund-
wesentliche. =- Denken Sie ferner an einen Weg, der sich in
eine Landschaft hinein fortzieht! Oder vergegenwärtigen Sie
fich den EindruE langer Galerien! Dabei knüpfen sich Ihnen
symbolische Gefühle an die Horizontale.
Nun die schräge Linie! Da ist die Sache schon schwieriger.
Wir kommen daran in der Architektur. Hier will ich Sie nur
erinnern an die Kreissegmente, die ges<wungenen Linien. Alles
Geschwungene gemahnt uns wie eine freiere Bewegung Der
Seele, wird ein Shwung, eine Elastizität des Gemüts. Wenn
sich der Bogen schließt zum Halbrund, so wirkt das wie eine
Rückkehr, wie ein harmonisches Einlenken, erinnert also an ver-
söhnte Gefühle der Vereinigung, des Zusammentreffens. Die
Kuppel des Pantheons und vollends die der Peterskir<e ver-
gleichen wir mit dem Himmelsgewölbe, sie wird uns rein in-
stinktmäßig zu einer großen geistigen Welt. Das ist ein ganz
ungesuchtes Gefühl. Die Baukunst wäre tot, wenn sie gar
nichts wäre als eine Zusammensehung von Steinen na< geo-
metrischen Linien; und wir haben schon erkannt: sie verwandelt
die Massen in ein Bild, als wären sie lebendig *). Dies sind
bloß ungefähre Andeutungen über die Symbolik der Linien in
ihren Dimensionen, damit hängen die ästhetischen Empfindungen
, zusammen, die sich an die verschiedenen Baustile schließen.
Weiter nehmen Sie die Musik, die Töne und ihre Ver-
hältnisse nac< Höhe und Tiefe, Zeiteinteilung, Langsamkeit und
Schnelle, Takt und Rhythmus. Wir haben uns sc<hon überzeugt :
, da ist alles meßbar, da kommt alles auf Zahlen an. Zwar
, nicht die wirklihen Zahlen kommen hier in Anbetracht, aber
1 alle3 wird nac<ß einem angenommenen System ausgedrüct und
1) Siehe oben S. 21.