206 I. Kraft und Stoff
diesen gewiß nicht leicht zu nehmenden Einwurf ist diese: Der Einwurf
verwechselt — und das ist gänzlich unkantisch — Verstand und Ver-
nunft. Wenn die letztere nach Kant imstande sein soll, sich über die
Formen des Verstandes ebenso wie über die der Anschauung selber
Rechenschaft zu geben, was sie doch spätestens im Jahre 1781 zu tun
versucht hat, ja wenn sie im Grunde somit sich zur Kritik ihrer selbst
(der „reinen Vernunft‘) aufschwingt, so ist nicht einzusehen, warum sie,
wenn sie das kann, nicht auch aus sich heraus erweiterte Formensysteme
sollte konstruieren können, die auch über die Verstandeskategorien
hinausführen!6), Tatsächlich wird dieser Befähigungsnachweis ebenso wie
im Falle der Anschauungsformen dadurch von ihr erbracht, daß solche
Systeme eben einfach vorgelegt werden und daß man dann dazu zeigt
und auch zeigen kann, wie sich die alten Formen unter diese Krweite-
rungen einbeziehen lassen. Können wir dies in bezug auf Substanz und
Kausalität leisten, so ist eben ein solches „nichtkantisches Kategorien-
system‘““ (sit venia verbo) schon eo ipso gerechtfertigt, genau so wie
die nichteuklidische Geometrie in dem Augenblick gerechtfertigt war,
als Lobatschefsky, Bolyai und Riemann sie aufstellten. Die Ver-
nunft kann dies, wie die Geschichte nun sattsam erwiesen hat, tatsäch-
lich leisten. Das bedeutet nichts anderes als dies, daß das Reich des
Geistes umfassender und weiter ist als das der Sinne und
des die Sinneserfahrungen verarbeitenden Verstandes (im
Sinne Kants). Dagegen sollten eigentlich gerade die Vertreter der
‚„‚Geisteswissenschaften‘‘ und einer „Geistesphilosophie‘“ nichts ein-
wenden. Daß sie es tun, beruht, wie mir scheint, auf ihrem ungerecht-
fertigten Anspruch, daß sie von sich aus die Grenzen feststellen wollen,
bis zu denen derartige Geistesleistungen vorzutreiben seien. Über diese
Frage entscheidet tatsächlich nicht eine spekulative Philosophie bzw.
Erkenntnistheorie, sondern — der praktische Bedarf. Der Geist bildet
diejenigen der potentiell in ihm liegenden Formen aus, die sich als
geeignet erweisen, immer umfassendere Bereiche der Erfahrung in einem
einheitlichen logischen System darzustellen 1®). Und heute liegen die Dinge
nun eben so, daß es sich als notwendig erwiesen hat, über jene beiden
bisher aller Naturwissenschaft mit dem besten Erfolge zugrunde gelegten
Kategorien doch hinauszugehen. Bezüglich des Substanzbegriffs ist
das so offenkundig, daß es m. E. nicht mehr bestritten werden kann.
Ich wage zu behaupten, daß der alte Substanzbegriff (s. oben) bereits
endgültig gefallen ist und nicht mehr wiederkehren wird. Was an seine
Stelle tritt, haben wir oben gesehen. Dann aber ist nicht einzusehen,
warum es mit der Kausalität nicht auch so sollte gehen können, und es
wäre also auch hier nur noch die Frage zu stellen, was denn nun an die
Stelle der alten Vorstellung von dieser zu treten hat und wie jene alte
Vorstellung in diese erweiterte neue einzuordnen ist.