Full text: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften

210 I. Kraft und Stoff 
aus in einem sehr weiten Umfange der rationalen Erklärung zugänglich, 
nur verteilt sich eben dies Rationelle und das irrational einfach Gegebene 
jetzt anders als vorher. Hierüber ist noch etwas mehr zu sagen. Wir stehen 
hier vor einem Problem, das bereits oben einmal flüchtig erwähnt wurde, 
nun aber einer ausführlicheren Erörterung bedarf: es ist das Kontingenz- 
problem. 
Unter dem Kontingenzproblem versteht man in der älteren 
philosophischen Literatur die Frage, warum überhaupt die Welt da 
sei. Dieses Problem ist in Wirklichkeit komplexer Natur, es enthält 
mehrere Unterfragen, auf die wir einzeln achten müssen, wenn wir zu 
einer klaren Antwort kommen wollen. Wir gehen am einfachsten auch 
hier von der alten klassisch-mechanistischen Auffassung (der Laplace- 
schen Fiktion) aus, wonach die Welt aus einem System von Massen- 
punkten (nach Analogie astronomischer Verhältnisse) bestünde, die 
nach gewissen Gesetzen aufeinanderwirken, d.h. sich gegenseitig Be- 
schleunigungen erteilen, z. B. nach dem Newtonschen Gravitations- 
gesetz. Damit der Weltlauf eindeutig bestimmt ist, müssen dann erstens 
diese Gesetze gegeben sein, und zweitens müssen für einen gegebenen 
Augenblick die genaue Verteilung der einzelnen Weltpunkte (Massen- 
punkte) und ihre momentanen Geschwindigkeiten festgelegt sein. 
Durch Integration der Differentialgleichungen nach vorwärts oder rück- 
wärts kommt man dann zu dem Weltzustande in einem beliebigen 
anderen Zeitpunkte der Vergangenheit oder der Zukunft (vgl. S. 59). 
Bei dieser klassisch-mechanistischen Auffassung ist nun die Welt 
offenbar kontingent (= zufällig) einerseits in Hinsicht auf die frag- 
lichen allgemeinen Gesetze, andererseits in Hinsicht auf den „Anfangs- 
zustand“. Daß der letztere sich jeder rationalen Begründung entzieht, 
ist evident, sobald man sich klarmacht, daß ja schon eine andere Welt 
resultieren würde, wenn nur zwei Atome ihren Platz vertauschten, 
und hieran wird auch dadurch nichts geändert, daß wir z. B. mittels 
kosmogonischer Hypothesen versuchen, den gegenwärtigen Zustand 
etwa unseres Planetensystems oder auch des ganzen Fixsternsystems 
auf einen früheren Zustand nach den allgemeinen Gesetzen zurück- 
zuführen. Dies bedeutet nur die Zurückschiebung der Kontingenzfrage 
auf jenen früheren Zustand, der ja doch wiederum eine einzige ganz 
bestimmte Beschaffenheit haben mußte, wenn gerade dieser jetzige 
Zustand mit dieser Verteilung von Materie und Energie daraus resul- 
tieren sollte. [ Bezeichnen wir mit Dinglers glücklich gewähltem Aus- 
druck!) den Inbegriff alles dessen, was wir über die allgemeinen 
Gesetze der Welt wissen, als den theoretischen Urbau und alles, 
was wir über die speziell verwirklichten Zustände und Systeme ermittelt 
haben, als den historischen Urbau, so können wir demnach sagen, 
daß dem letzteren unweigerlich eine Kontingenz zukommt, die für
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.