238 I. Kraft und Stoff
nungen einen Nachteil davon gehabt, daß man ein einfaches Grund-
gesetz für sie alle fand? Im geraden Gegenteil, die Forschung ist da-
durch gerade erst angeregt worden. Und das ist ganz erklärlich. Denn
wenn auch das Gesetz selbst einheitlich und einfach ist, so ist die Zahl
der darunter befaßten Sonderfälle und Folgerungen doch unendlich und
dem Menschengeiste in der Aufsuchung immer neuer Kombinationen
und ihrem Vergleich mit der Erfahrung ein unendliches Feld der Be- ,
tätigung gegeben. Wer weiß, wie viele bekannte und noch unbekannte
Erscheinungen wir noch durch die Elektronenhypothese werden er-
klären können? Schon in diesem doch wahrscheinlich selbst nur einen
Ausschnitt der gesamten Wirklichkeit, selbst also einen Spezialfall vor- r
stellenden Gebiet, liegt ja eine unendliche Zahl einzelner Erscheinungen .
beschlossen. Erst recht würde das mit einem die gesamte Wirklichkeit
umfassenden Erklärungssystem der Fall sein. Da würde ein Forschen
und Finden, ein Kombinieren und Wiedererkennen in der Erfahrung ;
anheben, wovon uns die Triumphe der Kristalloptik und der modernen
Spektraluntersuchungen, die Teerfarbenindustrie und die Funken-
telegraphie erst ein schwaches Bild geben. Und auch die Umkehrung
davon, die ‚zufällige‘ Entdeckung neuer Erscheinungen, ist damit
nicht im geringsten ausgeschlossen. Erleben wir doch solche auch jetzt 5
alltäglich auf Gebieten, die ihre vollkommen durchgeführte Theorie
bereits haben. Sie fügen sich dann — oft kostet auch das noch eine
erkleckliche geistige Arbeit — in das vorhandene Erklärungssystem ein.
Der Grund für die Möglichkeit, stets solche Entdeckerfreuden genießen
zu können und vor solche Erklärungsaufgaben gestellt zu werden, liegt 1
einfach in der endlichen Beschränktheit des Menschengeistes, der un-
möglich alle unendlich vielen Kombinationen und Einzelfälle übersehen n
und auffinden kann. Es liegt uns also völlig fern, einer gedankenlosen W
Genügsamkeit das Wort zu reden, die sich immer nur freut: wie wir’s ,
doch so herrlich weit gebracht, und darüber die zahllosen Probleme
nicht sieht, die noch dahinter stehen.
Andererseits aber war es freilich meine Absicht, in diesem ersten
Kapitel mit aller nur möglichen Deutlichkeit zu zeigen, daß noch viel
weiter als solche unberechtigte Überschätzung des bereits erreichten ir
Wissens die systematische Unterschätzung desselben und die zahl- ai
reichen Kritikastereien am Platze sind, die sich heute breitmachen — S
leider manchmal unter Berufung auf große Namen, die nicht ganz i
unbeteiligt daran sind. Diese Kritiken selbst sind, wie wir zur Genüge C
gesehen haben, mit einer gehörigen Dosis von Kritik zu genießen;
diese Erkenntnis bleibt auf alle Fälle bestehen, einerlei, welchem erkennt- '
nistheoretischen Standpunkte wir uns sonst anschließen.
Fragen wir uns aber jetzt zum Schluß, was denn nun für die Erkennt-
nistheorie selbst und ihre beiden Grundprobleme, das Realitäts- und