430 III. Materie und Leben
urteil, welchen Vorteil etwa die Religion von dem Festhalten an der ve
zweiten Annahme haben könnte. Ist es wirklich so besonders religiös, Ma
sich hier Gott als fortgesetzt neue Kingriffe in die Schöpfung aus- sar
übend vorzustellen. Besteht der Theismus etwa darin, daß Gott mög- urs
lichst oft als Ursache eintreten muß, wo unsere Erkenntnis versagt, und an
hat deshalb der Verteidiger des Theismus nichts Besseres zu tun, als nu
solcher „unerklärlicher‘‘ Geheimnisse möglichst viele aufzuspüren und Ma
urbi et orbi zu verkünden ? Das ist in Wahrheit nicht Theismus, sondern rec
multiplizierter Deismus. Wir haben darüber schon oben das Notwendige das
gesagt und wollen uns hier die Wiederholung ersparen. Nur die Be- kor
merkung kann ich nicht unterdrücken, daß es mir doch als eine des bäı
christlichen Gottesbegriffs recht wenig würdige Vorstellung erscheint, wenn sch
man annimmt, er habe den obenerwähnten Walen, Schlangen, Kälbern dal
usw. alle ihre rudimentären Organe und sich wieder zurückbildenden kör
Embryonalanlagen gerade so anerschaffen, wie sie jetzt sind. Zu welchem kär
Zweck denn ? Etwa, um die Naturforscher unserer Tage mit unvermeid- Nie
licher Notwendigkeit in die Irre zu locken ? Wofern also nicht etwa noch der
andere im engeren Sinne christlich-dogmatische Interessen der Annahme Fül
der Deszendenzlehre, insbesondere für den Menschen, entgegenstehen gar
(s. unten), ist nicht einzusehen, weshalb man sich von dieser Seite so daß
stark bis heute dagegen gewehrt hat. Für den Theismus im allgemeinen Win
liegt nicht die geringste Veranlassung vor, Gott vorzuschreiben, auf das
welche Weise er die einzelnen Arten entstehen lassen mußte; das fest- nisı
zustellen kann er vielmehr, wie jede Frage betreffs irgendwelcher speziel- pol;
len Dinge in der Welt, der Naturwissenschaft überlassen. auc
Unsere ganze bisherige Erörterung bezog sich lediglich auf die Frage rabı
der Deszendenz als solcher, also auf das „Daß‘‘ bzw. „Ob“ der Abstam- die
mung, aber nicht auf das „„Wie‘‘ und ‚,‚Wodurch‘“‘ derselben im einzelnen.
Betrachten wir nun auch diese Fragen etwas genauer. In betreff des
„Wie“, des Stammbaumproblems, können wir uns kurz fassen. Es L
ist vom allgemeinen, philosophischen Gesichtspunkte aus relativ gleich- heu
gültig, wie wir uns die Abstammungsreihen im einzelnen zu konstruieren abe:
haben — mag die Wissenschaft zusehen, wie sie das mit möglichst hoher balc
Wahrscheinlichkeit herausbringt. Vorläufig herrscht in dieser Hinsicht, gun
sobald wir aus den engeren Kreisen der Familien und allenfalls noch uns«
Klassen herausgehen, noch ein recht großes Durcheinander, und die Re- heu!
sultate der Embryologen einerseits, der Systematiker andererseits und dest
der Paläontologen auf der dritten Seite widersprechen sich nicht selten Des:
schnurstracks?5). So herrscht beispielsweise noch heute keine völlige sonc
Einigkeit darüber, ob die Vögel von den Reptilien abstammen, oder ob glei
beide aus einer gemeinsamen Wurzel nebeneinander sich entwickelten, wor:
wenn auch die erstere Hypothese meist bevorzugt wird. Vielleicht ist schl.
auch überhaupt die ganze meist zugrunde gelegte Vorstellung eines sich tion