484 IV. Natur und Mensch
lichen (biologischen) Grundlagen seines Wesens, und an diesem Problem
ist auch keineswegs nur die christliche Dogmatik interessiert, sondern
ebensogut die ganze Kulturphilosophie sowie im Grunde alle sog.
Geisteswissenschaften, in erster Linie auch die Psychologie. Wir müssen
das Problem der Menschwerdung deshalb jetzt auch von dieser Seite
aus noch ein wenig betrachten, es ist zugleich der Kernpunkt des Pro-
blems
23. Natur und Kultur
Der Mensch hat im Unterschiede von den Tieren, wie schon 5. 467 her-
vorgehoben, Sprache, Sitte, Recht, Religion, Sittlichkeit, Kunst und
Wissenschaft, er hat zudem Werkzeuggebrauch und Technik, Wirtschaft
und soziales Leben. Von alledem finden wir bei den höheren Tieren
höchstens einzelne Anklänge, sie sind so allgemein bekannt, daß ich sie
nicht aufzuzählen brauche, es sei nur etwa an die australischen Lauben-
vögel mit ihrem Kunsttriebe und die „Staaten“ der Ameisen und Ter-
miten erinnert. Diese Anklänge sind aber eben auch nicht mehr als solche,
denn gerade das, was den Menschen charakterisiert, daß er auf allen
diesen Gebieten fortgesetzt in Freiheit weiter schafft, daß sich seine
Rechts- und Staatsformen, seine Kunst usw. fortgesetzt wandeln und,
wenn auch in sehr verschiedenem Tempo, wachsen, das fehlt den Tieren
vollständig. Sie stehen still auf dem einmal erreichten Standpunkte,
jede junge Kreuzspinne spinnt ihr Netz nach genau demselben stereo-
typen Muster wie die alte, die sie nie gekannt hat, jeder Singvogel baut
sein Nest ebenso wie tausende seiner Vorfahrengenerationen ‚vor ihm.
Und wird einmal ein solcher „Instinkt“ (s. unten) wirklich durch ver-
änderte Umwelteinflüsse abgeändert, so ist der neue Zustand eben wieder
ein ebenso unabänderlicher wie der vorige. Für den Menschen hingegen
ist gerade der Wechsel typisch. Auf ihm beruht seine unendliche Anpas-
sungsfähigkeit, die ihn zum Herrn über die ganze Erde gemacht hat.
Er kennt zwar auch Tradition und „von den Vätern ererbte Gewohn-
heiten‘, aber diese sind etwas gänzlich anderes als die tierischen In-
stinkte, er ist ihnen nicht bedingungslos ausgeliefert, sondern kann sie
jederzeit ändern, sofern er sich nur zu dem Entschlusse dazu aufraffen
kann, während das Tier den ihm vom Instinkt vorgezeichneten Weg
gehen muß mit der gleichen Notwendigkeit, mit der das Wasser den
Berg hinunterlaufen muß. Dieser Bindung des Tieres an das Stereotype
entspricht auf der anderen Seite sein Haften am konkreten Einzelerleb-
nis. Wir haben keinerlei wirkliche Beweise dafür, daß das Tier es auf
irgendeinem Gebiete zum abstrakten Begriff, zum generellen Gesetz
oder allgemein gültigen Grundsatz bringen könnte oder gebracht hätte.
Die Kubikwurzeln ausziehenden Pferde und Hunde. sind deshalb von
vornherein mehr als verdächtig. Warum in aller Welt, wenn die Tiere