Full text: Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften

486 IV. Natur und Mensch 
natürlich ließe sich noch vieles andere hinzufügen. Im ganzen kommt 
die Sache ersichtlich darauf hinaus, daß zwar für sämtliche mensch- 
lichen Fähigkeiten Ansatzpunkte in der Tierpsychologie sich finden, daß 
aber zu allen doch noch ein gewisses Etwas hinzukommen muß, um aus 
dieser tierischen Fähigkeit eine menschliche Kulturleistung zu machen. 
Dieses Plus ist es, was man meist mit dem Worte ‚Geist‘ bezeichnet. 
Es verhält sich offenbar zum niederen tierischen Seelenleben ganz ähn- 
lich wie das Organische zum Anorganischen. Das eine hebt das andere 
nicht auf, sondern schließt es ein und zieht es in einen höheren umfassen- 
deren Bereich hinein. Anders gesagt: wir haben hier, wie schon zu An- 
fang dieses Kapitels erwähnt, eine neue „Emergente‘“ der Entwicklung 
des Lebens auf der Erde. Das alles ist so klar, daß darüber kein Wort 
weiter verloren zu werden braucht. Sehr viel schwieriger ist es dagegen, 
eine Antwort auf die Frage zu geben, worin denn nun eigentlich dieses 
Neue im letzten Ende besteht und wie wir uns das „Auftauchen“‘ des- 
selben aus dem Tierreich vorstellen sollen. 
Kine alles umfassende einwandfreie Definition dessen, was „Geist‘“ 
eigentlich ist, läßt sich kaum geben. Sicher ist, daß man das Selbst- 
bewußtsein (das „„Ich‘‘) und das Gefühl, einen freien Willen zu besitzen, 
als zwei Grundkomponenten dieses höheren menschlichen Seins ansehen 
muß. Das Kind wird Mensch im Vollsinne des Wortes eigentlich erst in 
dem Augenblicke, wo es zum ersten Male mit vollem Bewußtsein das 
„Ich will“ ausspricht. Die Kindespsychologie%2°) lehrt uns aber auch, 
daß dieses Ersteigen der höheren Stufe nicht auf einmal und dann end- 
gültig erfolgt, sondern daß es zunächst einzelne Augenblicke bei beson- 
deren Gelegenheiten sind, wo sich das bis dahin noch dumpf im bloßen 
Triebleben befangene Bewußtsein zu sich selbst erhebt, um dann aber 
rasch wieder zu versinken und oft wochenlang nicht wieder zum gleichen 
Ergebnis zu gelangen. Erst ganz allmählich konstituiert sich aus sol- 
chen Einzelerlebnissen ein fortlaufender bewußter und deutlich er- 
innerbarer Zusammenhang, und eines Tages steht der kleine Mensch 
fertig da als eine neue „Persönlichkeit‘. Wenn wir auch auf diesem 
Gebiete die ontogenetisch-phylogenetische Parallele anwenden dürfen, 
so müssen wir demnach schließen, daß es wohl ähnlich auch bei der Ent- 
wicklung der Menschheit zugegangen sein mag. Zuerst mag vereinzelt 
hier und da einmal ein höheres Geistiges aufgeblitzt sein in einzelnen 
besonders begabten Individuen. Besondere Gelegenheiten, z. B. gemein- 
same große Gefahren, denen die Horde ausgesetzt war, mögen die un- 
mittelbare Veranlassung gewesen sein, daß sich solch ein Durchbruch 
vollzog. Dann aber verschwand das auch wieder, und erst im Laufe 
vieler Tausende von Jahren wird sich allmählich immer öfter und auf 
immer längere Zeit ein solches „Oberbewußtsein“‘ (s. a. unten) eingestellt 
haben. Diese Hypothese wenigstens muß derjenige machen, der nicht
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.