526 IV. Natur und Mensch
nichts mehr vorhanden war. Die Bürgerkriege hatten dieses alte tüch-
tige Erbgut lange verschlungen. Auf der Seele der Verantwortlichen
in den europäischen Ländern lastet oder sollte doch lasten heute die
Frage, ob nicht ein ähnlicher Degenerationsprozeß auch bei uns längst
sich zu vollziehen im Begriff ist. Da an diesem Punkte die naturwissen-
schaftlichen Einsichten der Vererbungslehre sich aufs engste mit ethi-
schen, politischen und kulturellen Fragen berühren, ist es eine unabweis-
bare Aufgabe auch der Naturphilosophie, zu diesem Fragenkomplex
in etwa Stellung zu nehmen.
Die Untersuchungen und die Änderungsvorschläge gehen hierbei nach
zwei wesentlich verschiedenen Richtungen. Die einen sehen die Be-
dingungen für Verfall oder Aufstieg in erster Linie in den rein anthro-
pologisch gefaßten Rassenverhältnissen, sie halten es also für die erste
und grundlegendste Forderung, Klarheit darüber zu schaffen, welche
(anthropologisch. gedachten) Rassenelemente an unserer Kultur als
Schöpfer und Träger aktiv beteiligt sind bzw. welche Rolle den einzelnen
Komponenten, etwa der alpinen, der nordischen, der mittelländischen
Rasse usw. dabei zufällt. Die anderen lehnen dagegen solche Unter-
suchungen als doch nicht mehr durchführbar ab (weil die Rassen viel zu
stark schon gemischt sind) und wollen sich darauf beschränken, die Ver-
teilung des guten und des schlechten Erbgutes in den Völkern zu stu-
dieren — ohne Rücksicht auf die anthropologischen Rassenmerkmale
der Träger — um dann danach das Verhalten in Privatleben und Ge-
setzgebung einrichten zu können. In das gegenwärtige Kapitel gehören
zunächst nur die ersteren Lehren und Bestrebungen, die andere, rein
„eugenische‘‘ Bewegung wird uns im zweiten Teile näher beschäftigen.
Es ist bekannt, daß in vielen Ländern europäischer Kultur, insbeson-
dere in Deutschland, England, Skandinavien (auch den U.S.A.) eine
große „nordische Bewegung‘‘ besteht, die ebenso begeisterte Verfechter
wie haßerfüllte Gegner findet und angesichts deren es heute fast unmög-
lich erscheint, eine ruhig nüchterne und objektive Betrachtung der Dinge
überhaupt auch nur zu Gehör zu bringen, da jede der beiden Parteien
nur das hören will, was ihr paßt. Wir müssen den Versuch trotzdem
machen, wenn wir uns auch bewußt sind, damit nicht nur in ein, sondern
zugleich in zwei Wespennester zu stechen.
Zunächst: Was ist die nordische Rasse ? Es gibt Anthropologen von Ruf,
die schon diesen Begriff als solchen ablehnen. Nach Scheidt*”) z. B.
soll dieser Typus eine unzweifelhafte Kreuzung aus zwei echten Rassen
sein, deren einer (der sog. atlantischen Rasse) er die Mehrzahl der-
jenigen Merkmale zuschreibt, durch welche sich die nordische Rasse in den
Augen ihrer Verehrer*%3) seelisch, geistig und auch körperlich vor anderen
auszeichnet (hoher Wuchs, Tapferkeit, Wagemut, hohe Intelligenz usw.),
nur die blonden Haare und blauen Augen erkennt er ihr nicht zu. Diese