574 IV. Natur und Mensch
Es gibt nicht wenige, die sowohl von der Seite der Naturwissenschaften
her, wie andererseits von der Seite der Geisteswissenschaften her behaup-
ten, daß die obige Fragestellung als solche schon ein hölzernes Eisen
sel. Denn — so sagen beide — die Natur als solche ist stets wertfrei,
alles Werturteilen ist eine spezifisch menschlich geistige Sache und geht
nur den Menschen selber etwas an. Er kann die Natur als solche eben-
sowenig mit diesen seinen Werturteilen treffen, wie man umgekehrt
Sittlichkeit nach Kubikzentimetern oder Schönheit nach Volt messen
kann. Beides sind völlig disparate Gebilde, und die Geisteswissenschaf-
ten müssen sich gerade in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse
dagegen zur Wehr setzen, daß etwa der Naturforscher mit Begriffen wie
„Kunstformen der Natur‘ od. dgl. um sich wirft. Das ist nicht seines
Amtes, er hat Seinsurteile, aber keine Werturteile zu fällen. Umgekehrt
pflegen die Naturwissenschafter ihrerseits dasselbe zu sagen, weil sie
aus einer langen historischen Erfahrung gelernt haben, daß das Hinein-
tragen wertender Gesichtspunkte den Blick der Forschung mehr wie
einmal für die objektiven Sachverhalte gefährlich getrübt hat.
Nun denke ich selbstverständlich nicht daran, das Recht dieser
letzteren Erwägung abzustreiten. Es ist heute eine Binsenwahrheit, daß
der Naturforscher als solcher zunächst nicht zu werten, sondern nur fest-
zustellen hat. Wir haben aber oben schon gesehen, daß zu diesen Fest-
stellungen keineswegs nur Kausalzusammenhänge, sondern ebensogut
auch teleologische Zusammenhänge zu rechnen sind, und wenn wir diese
ihrerseits zunächst auch wiederum rein sachlich nehmen (wie z. B. in
dem bereits angeführten Satze, daß die Fliege der Spinne als Nahrung
dient), so führt uns diese ganze teleologische Betrachtung doch natur-
gemäß und ganz folgerichtig auf den Gedanken eines universellen
teleologischen Zusammenhangs hin, in dem alle diese Einzel-
teleologien nur als Komponenten enthalten sind. Von diesem Gedanken
aber ist es dann nur noch ein Schritt zu der dahinterstehenden Frage
nach dem Sinne dieses Ganzen selbst, welche Frage uns dann unmittel-
bar in das Gebiet der Werturteile führt. Denn es ist offenbar, daß mit
diesem letzten Sinn dann auch in irgendeinem Zusammenhange die
geistige (Kultur-) Entwicklung der Menschheit einschließlich ihres Wert-
strebens steht, da ja doch diese Entwicklung selbst ein Stück jenes
Ganzen ist, um dessen Sinn es sich handelt. Andererseits ist auch der
Forscher als Mensch nicht nur Forscher, sondern er fällt auch Wert-
urteile wie alle anderen Menschen, und er tut dies ganz naturgemäß dann
doch auch in erster Linie bezüglich derjenigen Dinge, mit denen er sich
vornehmlich zu befassen hat. Die Äußerungen der großen Astronomen
über die unendliche Erhebung des Gemüts, welche der Anblick des ge-
stirnten Himmels und die Vertiefung in seine Geheimnisse erweckt,
sind allbekannt, ebenso auch die zahllosen Ausrufe der ästhetischen Be-