578 IV. Natur und Mensch
erzogen werden mußte, auch in bezug auf die anderen Werte eine lange
Erziehung durchgemacht hat und noch weiter durchmachen muß?
An dieser Stelle werden aber vielleicht noch die Künstler selber einen
schwerwiegenden Einwand erheben. Der Subjektivismus und Relativis-
mus ist in ihren Kreisen heute communis opinio. Man kann heute von
einer fast pathologischen Angst, vor allem des großen Kunstpublikums,
aber auch zahlloser Künstler selber, vornehmlich denen zweiten und
dritten Ranges, vor dem Glauben an irgendwelche objektiven ästhe-
tischen Maßstäbe oder Werte reden. Das war keineswegs immer so. Im
Gegenteil sind die ganz großen Künstler der Vergangenheit wohl fast
alle — mit wenigen Ausnahmen — von dem gleichen Gefühl erfüllt
gewesen, das auch die Schöpfer der größten wissenschaftlichen Erkennt-
nisse beseelt hat: dem Gefühl, daß das, was sie leisten durften, ein Ge-
schenk von oben, ein Ergreifen und nicht eigentlich ein Erzeugen ihrer-
seits gewesen sei. Die Sprache, die an sinnlich konkreten Dingen erwach-
sen ist, hat leider kein ganz adäquates Wort für dies hier vorliegende
eigentümliche Verhältnis, bei dem gerade die allerhöchste Aktivität des
„„‚Schaffenden‘‘ sich zuletzt ihm selber als ein reines „Schauen“ enthüllt.
Goethe hat von Bachs Musik bekanntlich das tiefe Wort geprägt, es
sei „als ob die ewige Harmonie sich mit sich selber unterhielte‘“, und in
der Tat hat diesen Eindruck wohl jeder, der, mit einigem Musikverständ-
nis begabt, die Werke Bachs erlebt. Wie kommt es, daß dabei kein
Mensch an Bach, den Thomaskantor mit dem knappen Gehalt, den
widerspenstigen Schülern, dem übelwollenden Magistrat und den zahl-
reichen Kindern, denkt? Was ist überhaupt bei solcher Musik noch der
Mensch, der sie „schuf“ ? Ist er nicht doch vielleicht wirklich das, wofür
er sich selbst gehalten hat: ein bloßes Sprachrohr, ein Mittel in der Hand
einer höheren durch ihn schaffenden Macht? Diese Ausdrücke sind, wie
gesagt, inadäquat, denn sie verneinen allzustark wiederum die immer
gleichzeitig vorhandene intensivste Aktivität des betreffenden Künst-
lers. Am richtigsten trifft man vielleicht doch den Sachverhalt, wenn
man ganz direkt sagt, daß in solchen Menschen ein Stückchen Gottheit
sich selber wirksam erweist, und daß sie eben deshalb beides zugleich:
nichts und alles, gleichgültiges Mittel und höchste Schöpferkraft in einem,
sein müssen und sind. Ich meine, die Künstler selber hätten das größte
Interesse daran, daß diese höchste Auffassung ihres Berufes nicht ganz
im Wust des heutigen Nichtsalsrelativismus und in der Originalitäts-
hascherei um jeden Preis ersticke. Was sind denn zuletzt all die vielen
kleinen Gernegroße gegen die wenigen, die das wirklich Große hervor-
bringen? Das ganze bis zum Überdruß wiederholte Pochen auf das
‚„Eigene‘‘, das „Persönliche“ ist ja doch, bei Licht besehen, nichts weiter
als das Mäntelchen, das eine im Innersten unproduktive, weil nicht mehr
an den höheren Beruf glaubende Zeit um ihre eigene_Blöße schlingt und