Full text: Lehrbuch der Photographie

D3l Charakter. 
Modell ist, und seine Miene verräth, dass der Wein im Glase 
nichts ist als Weissbier. Solche Darstellung ist nicht nur unver- 
ständlich, sondern auch unwahr. Ein Frauenzimmer, das die Hände 
faltet, ist noch kein betendes, wenn ihr Gesichtsausdruck dem nicht 
entspricht; das gilt auch für gewöhnliche Portrait- Darstellungen. 
Ein grosser Künstler braucht wenig zur Charakteristik, Photo- 
graphen oft viel, zu viel. Das unterscheidet ja eben Kunst und 
Photographie, dass der Künstler bei allen Dingen eben nur die 
charakteristischen Theile hervorhebt, die übrigen dämpft oder weg- 
lässt; während die mechanisch arbeitende Photographie alles mit 
gleicher Deutlichkeit bringt, auch die allergrössten Nebensachen. 
Jeder Mensch hat seinen eigenen Charakter, d. h. seine eigenen 
Grundsätze des Handelns. Nun sollen wir einen Menschen durch 
das Bild in seinem wahren Charakter wiedergeben, das kann auf 
zweierlei Weise geschehen. Entweder stellen wir die Gestalt in 
statuarischer Ruhe dar‘ (s. Fig. 204, p. 506) oder in irgend einer 
Handlung. Man hat oft gesagt, der Portraitist soll nicht Hand- 
lungen malen. Das ist sehr wahr. Wenr aber eine Handlung 
zur Charakterisirung der Person beiträgt, so darf man solche wohl 
gelten lassen. 
Es giebt wenig Menschen, deren Gesichtszüge klar und voll- 
ständig ihren Charakter wiedergeben. Mit der Physiognomik sieht es 
schlimm aus. Wir kennen Menschen, deren zusammengekniffene Lip- 
pen etwas Listiges, Boshaftes, deren kleine grüngefärbte Augen etwas 
Falsches, Verstecktes vermuthen lassen, die sich dennoch als die 
prächtigsten und liebenswürdigsten Menschen mit untadelhaftem 
Wandel offenbaren. Ebenso giebt es aber auch Menschen von so 
edlem, offenem und biederem Antlitz, dass sie auf den ersten Blick 
für sich einnehmen und die dennoch die allergrössten Schurken sind. 
Aeussere Erscheinung und Charakter, Inhalt und Form stehen oft 
im grellsten Widerspruch zu einander. 
Freilich ist es den meisten Leuten gar nicht um die treue 
Wiedergabe ihres Charakters zu thun. Der Spitzbube will als ehr- 
licher Mann auf dem Bilde erscheinen, manche schlotternde Alte 
jung, kokett und elastisch; das Dienstmädchen spielt im Atelier das 
feine Fräulein, die Bürgerstochter möchte Hofdame, der  Strassen- 
kehrer Gentleman sein; so dient ihnen ihr Bild zur Schmeichelei 
ihrer persönlichen Eitelkeit, und damit die Leute gar recht fürnehm 
und ungewöhnlich‘ erscheinen, stecken sie sich in ihren (oft auch in 
fremden) Sonntagsstaat, der ihnen oft so unbequem wie möglich 
sitzt, und üben sich am Spiegel zu Hause unter Zuziehung von 
Papa, Mama, Frau oder Liebsten eine künstlerisch unmögliche Pose 
ein. Selbst gebildete Leute haben solche Schrullen. 'Thorwaldsen 
erzählt von Byron, der ihn zu einer Sitzung besuchte: „Kr setzte 
sich mir gegenüber, fing aber, ‚als ich zu arbeiten begann, sogleich 
an, eine ganz andere fremdartige Miene anzunehmen. — Ich machte 
ihn darauf aufmerksam. — Das ist der wahre Ausdruck meines. Ge- 
sichts, entgegnete Byron. So? sagte ich, und machte dann sein 
Portrait ganz wie ich wollte. Alle Menschen erklärten meine Büste 
an 
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