Perspectivische Anomalien. 123
man erhält also in diesem Fall mehr von der Ansicht des Objectes auf
dem Negativ, und je mehr man erhält, desto natürlicher wird das
Negativ! Man kann nun durch Anbringen einer zweiten Lichtquelle
(in einiger Distance von der ersten, je weiter ab, je effectvoller) die
Schattenräume, welche die erste Lichtquelle erzeugt hat, durch die
zweißbe beleuchten! Dieser Fall entspricht nun aber der gleichzei-
tigen Aufnahme ein und ‚desselben Gegenstandes durch 2 identische
Linsen, resp. Apparate, welche jeder sein eignes optisches Centrum
besitzt und von denen jeder ein perspectivisch verschiedenes Bild des-
selben Gegenstandes erzeugt. Mit einem solchen optischen Apparat
hat uns aber die Natur versehen, indem wir 2 Augen (jedes mit seinem
eignen optischen Centrum versehen) erhielten, um mit Hülfe unserer
Gehirnthätigkeit dieselbe in eins zu verschmelzen, um auf diese
Weise die Schwierigkeit zu beseitigen, welche dadurch entsteht, dass
das räumliche Bild eines körperlichen Gegenstandes auf einer
Projectionsfläche aufgefangen wird (in diesem Fall die Retina unserer
Augen). Wäre dies nicht der Fall, so würde man sich räumlich nur
an, aus der Erfahrung bekannten Objecten und aus deren Beleuchtungs-
verschiedenheit orientiren können, aber nicht an unbekannten Objecten.
Wir nennen ein solches Sehen stereoskopisches Sehen, auf welches
wir hier aber nicht weiter eingehen können, als zum Verständniss des-
selben eben nothwendig ist. Betrachtet man irgend einen Gegenstand
mit einem Auge und der Gegenstand wird theilweise durch einen
zweiten Gegenstand verdeckt, so verdeckt dieser zweite Gegen-
stand, wenn man ihn mit dem andern Auge betrachtet, einen andern
Theil des ersten Gegenstandes. Aus diesem Grunde kaun man also
zum "Theil hinter undurchsichtige Gegenstände sehen (wenn beide
Augen zugleich thätig sind und ihre Bilder im Gehirn verschmelzen).
Zum grossen Theil beruht nun auf diesem „Hintenherumsehen“ der
stereoskopische Effect, der uns befähigt, aus zwei Bildern in einer
Ebene uns richtige Begriffe von der Tiefen dimension (welche im
einzelnen Bilde = 0 ist) zu machen. Ist die Distance der Augen
gross genug oder der verdeckende Gegenstand klein genug, so ist dieses
„Hintenherumsehen“ vollständig, d. h. es bleibt uns kein Theil des
für ein Auge verdeckten ersten Gegenstandes verborgen und wir haben
die merkwürdige Erscheinung, als ob der verdeckende undurchsichtige
Gegenstand durchsichtig wäre! Diese Erscheinung ist jedoch keines-
wegs an die Bedingung zweier optischer Centren gebunden, also auch
nicht an die Bedingung zweier perspectivisch verschiedener Bilder!
(Was nicht allgemein bekannt zu sein scheint.) Es kann nämlich auch
der Fall sein, dass die Eintrittspupille eines Linsensystems gross
genug oder der verdeckende Gegenstand klein genug, dass man voll-