Emancipation von der verrotteten Gelehrtenmanier, indem es
meinen moralischen Muth steigerte, das passive und kritiklos
receptive, von blosser Lectüre zehrende Verhalten der meisten
Gelehrten zu verurtheilen. Ich wurde noch mehr als früher inne,
was umsichtige Auswahl des Stoffes, combinatorisches Urtheil und
Festigkeit der Consequenz vermögen. Auch empfand ich, dass
die moralische Kraft. und ein Sinn, der keinen wissenschaftlichen
Betrug duldet, einen grossen Antheil auch an rein wissenschaft-
lichen Erfolgen haben. Sich selbst ehrlich gestehen zu können,
was man weiss und nicht weiss, ohne sich durch fremde Autorität
oder eigne Eitelkeit beirren. zu lassen, — das ist der wichtigste
Schlüssel zur Kritik und die Vorbedingung zu jeder wissenschaft-
lichen Reform und Schöpfung. Meine Situation war nun danach
geartet, meine frühere natürliche Entschlossenheit zur vollsten
Energie zu steigern. Mein Ziel war mein Trost. Hätte der refor-
matorische Beruf mich nicht schon immer gehoben und gefestigt,
wie hätte ich die jähe Schicksalswendung so ungebrochen be-
stehen können? Mit dem Ideal in Kopf und Herz verschmerzte
ich aber einen Verlust, von dem ich annahm, dass er mir zwar
den äussern Weg gewaltig erschweren, aber doch die Erreichung
des Ziels nicht hindern könne. Ich war überzeugt, dass der Ge-
winn an innerer Spannung der Kräfte diesen Verlust für die Haupt-
sache aufwiegen, ja vielleicht mehr als aufwiegen würde. Auch
hat mich diese Zuversicht thatsächlich nicht getäuscht. Von
allen Gedanken, die mir im Laufe der nächsten Jahrzehnte fern-
geblieben sind, ist bisher der fernste derjenige gewesen, meine
Blindheit zu beklagen. In diesem Punkte habe ich das Gleichge-
wicht des Gemüths nie verloren. Freilich ist, wie ich hinzusetzen
muss, mein Schicksal von vornherein nicht blos durch den inner-
lichen Enthusiasmus, sondern auch äusserlich durch ein wohlthuen-
des Familienleben ausgeglichen worden.
4. Der Mangel des Sehvermögens ist stets das Letzte gewesen,
woran ich im doppelten Kampf für Sache und Existenz denken
konnte. In diesem Mangel lag die Hauptschwierigkeit niemals;
denn ihn wusste ich in dem von mir gewählten Thätigkeitsbereich
mehr als zu ersetzen. Es war selbstverständlich, dass mir per-
sönliche Anknüpfungen allerdings äusserst erschwert wurden, und
dass ich eine literarische Thätigkeit nur im Hause ausüben konnte.
So durfte ich nicht an Funetionen denken, die, wie beispielsweise
das Arbeiten in einer Redaction, unter andern Umständen hätten
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