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subjektiven und individuellen Sinne, den man heutzutage zunächst
mit diesen Worten verknüpft, wenn man von Jemandem sagt, dal
sein Leben künstlerisch gestaltet habe, sondern in dem durchaus
objektiven, allgemeinen Sinne der, wenn nicht unbewufsten, doch
jedenfalls unbeabsichtigten Selbstgestaltung. Die „Antike“ war
an sich eine künstlerisch angelegte Natur und deshalb mufste ihr
die Reflexion über dies ihr künstlerisches Sein selbst das aller-
fernst Liegende und auch Schwierigste bleiben — so lange wenig
stens, als solche Unmittelbarkeit und Einheit dieses Seins ungetrübt
und folglich auch schöpferisch wirksam blieb.*
Was die Beurtheilung der Differenz betrifft, wodurch diese
inheit zerstört und die Unmittelbarkeit aufgehoben wurde, so ge-
hört die Darlegung der Gründe derselben der Kulturgeschichte an.
Nur daran könnte beiläufig erinnert werden, dafs es von der einen
Seite allerdings die beginnende Reflexion war, die den Bruch des
antiken Geistes mit sich selbst hervorbrachte; daher es denn vom
Standpunkt jener reflexionslosen Unmittelbarkeit des antiken Lebens
durchaus gerechtfertigt, nämlich als Selbstvertheidigung, erscheint
dafs die Athener den refiektirenden Sokrates zum Tode verur-
theilten, weil er „die Götter leugne und die Jugend verführe“.
Denn dies that er von jenem Standpunkt aus in der That, und
alles Sentimentalisiren über den erhabenen Märtyrer hebt die Be-
rechtigung des antiken Volksbewufstseins zu solchem Akt nicht auf?).
Es ist daher ebenso einseitig zu behaupten, dafs die erwachende
Reflexion die Productionskraft schwächte, als umgekehrt, dafs die
abnehmende Productionskraft die Reflexion hervorrief und gleich-
sam aus ihrer Latenz befreite: sondern diese beiden Verhältnisse
müssen als eine Wechselwirkung gefafßst werden, indem das Eine
die Ursache des Anderen war oder vielmehr beide aus derselben
Ursache, nämlich aus der Schwächung der Intuitionskraft durch
nationale Entnervung, entsprangen. Als nunmehr die ästhetische
Reflexion sich zu regen begann, so that sie dies, trotzdem dafs sie
sich dem ganzen reichen und hochgebildeten Kunstgebiet gegenüber
befand, in ebenso befangner und kindlicher Weise, wie die erste
Naturphilosophie eines Thales, Anaximander und Anaxime-
nes dreihundert Jahre früher, welche ja auch dem ganzen reichen,
mannigfaltig gestalteten Gebiet der Natur gegenüberstand. Und wie
diese zunächst nach dem „Princip der Dinge“ forschte, indem sie
die Frage aufwarf, was „das Erste“ sei und als_dies_Erste_bald
1) Vergl. hierüber _die Einleitung zum II Buch $ 25, besonders No. 189,