Full text: Von Plato bis zum 19. Jahrhundert (1. Theil, 1. Abtheilung)

DR 
Tritt nun zur Kunstkennerschaft diese echte Liebe zur Kunst 
hinzu — ähnlich wie vorhin zur Kunstliebe das Verständnifs —, 
dann gewinnt der Name „Kunstkenner“ eine andere, nämlich posi- 
tive Bedeutung. Solche Kenner, deren Kenntnifs auf einem wahren 
und innigen Verständnifs der Kunst und ihres eigentlichen Wesens 
beruht, sind aufserordentlich selten. Sie besitzen ebenfalls in ge- 
wissem Grade jene Intuition des unmittelbaren Erkennens des Wesens, 
jenen Instinkt des Geistes, welcher — wenn auch nach verschiede- 
nen Richtungen — dem unbefangenen Laien und dem Künstler 
innewohnen kann, und welcher dem wahren Kunstphilosophen im 
höchsten Grade innewohnt. Ein Kenner dieser Art wird, wie der 
Dichter, der Maler, der Musiker und der echte Philosoph, geboren.*) 
Unterstützt durch ein vielseitiges, wenn auch meist nur in einer 
Richtung sich bewegendes Studium der Meisterwerke, nicht nur nach 
dem sich daran anknüpfenden Apparat von Namen, Daten, Titeln 
und technischem Detail, sondern nach der Eigenartigkeit ihres künst- 
lerischen Wesens im Verhältnils zur kunstgeschichtlichen Entwick- 
Jung überhaupt, wird die angeborene Seherkraft des wahren Kenners 
zu einer Schärfe und Klarheit des Blicks ausgebildet, welche allein 
ein begründetes Anrecht auf diesen Namen gewährt. Solche Kenner 
waren Winkelmann, Lessing und von Rumohr, um nur diese 
zu nennen. 
In diesem substanziellen Sinne gefalst, bilden nun der „Kunst- 
freund“ und der „Kunstkenner“ keinen Gegensatz. mehr, sondern 
dieser wird eben dadurch, dafs der wahre Kunstfreund ohne Ver- 
ständnifs, der wahre Kenner ohne Liebe zur Kunst unmöglich sind, 
aufgehoben und vernichtet. Der Unterschied, welcher etwa zwischen 
den beiden Typen noch bestehen bleibt, beruht, als ein blos for- 
maler, lediglich darin, dals der Kunstfreund den Hauptaccent auf 
die Liebe zur Kunst legt, welche durch das Verständnifs geläutert 
und erhöht wird, während bei dem Kunstkenner dies Verständnifs 
zum wesentlichsten Zweck, d.h. zum ernsten Studium und Beruf 
wird, in welchem ihn die Liebe zur Kunst stärkt und befestigt. — 
Ferner aber berühren sie sich in dem einen Punkte, da{(s sich ihre 
Liebe wie ihr Verständnifs selten auf das Gesammtgebiet der Kunst, 
d. h. auf alle Künste gleichmäfsig richten, sondern gewöhnlich nur 
*) Jener oben citirte Ausspruch Göthe’s und die daran geknüpfte Bemerkung 
kann hier noch durch das Wort Fr. v. Schlegel’s vervollständigt werden, dals es 
„auch eine ursprüngliche Naturgabe des echten Kenners“ gebe, „welche zwar, wenn sie 
schon vorhanden, vielfach gebildet werden, wenn sie _aber mangelt, durch keine Bildung 
ersetzt werden kann.“
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.