Full text: Theorie des Gefühls zur Begründung der Aesthetik

schaft ist nicht angefangen, ehe die Wahrheit als das blosse 
Uebereinstimmen des Denkens mit sich selbst bestimmt ist, 
obwohl dieses Ideal sich als ein gänzlich inhaltleeres be- 
weist. Die Sittlichkeit hat ihre Voraussetzung in der bloss 
formalen Regel, dass das Prinzip unsres Handelns sich als 
allgemeine Maxime denken lassen müsse. Einen Schritt 
weiter erkennt dann das kritische Denken, dass diese blossen 
Formen des Ideals ihren Inhalt durch die Gesamtheit des 
geistigen Lebens bekommen müssen, das Denken aus Em- 
pfindung und Anschauung, das Handeln aus dem ganzen 
Reichtum der geistigen Interessen. 
Genau dasselbe zeigt sich auch im Gebiet des Aesthe- 
tischen. Das Interesse der Phantasie geht zunächst auf 
bloss formale Freiheit, schöpferische, spielende, ungehemmte 
Thätigkeit. Aber in diesem Verhalten ist sie zweck- und 
vernunftlos; man kann keine Kunst aus dem blossen Phan- 
tasieinteresse konstruieren. Auch hier muss sich erst der 
volle Gehalt des geistigen Lebens in das Phantasieinteresse, 
in die Form der Freiheit hineinlegen, bis wir zu einem Ideal 
gelangen, das wirklich der Ausdruck eines der grundwesent- 
lichen Interessen des Geistes ist. 
Schon aus dem Wesen der Phantasie geht diese Not- 
wendigkeit hervor; denn wir definierten die Phantasie als 
die Thätigkeit, welche geistigen Gehalt in sinnliche Form 
schafft. Sie bedarf also geistigen Gehalts, setzt diesen voraus. 
Sie kann ihn aus den zufälligen Interessen des individuellen 
Geistes entnehmen. Aber eine vollkommene, ideale Funktion 
wird sie nur sein, wenn ihr Inhalt aus dem allgemeinen 
vernünftigen Wesen des Menschen überhaupt genommen ist. 
Es ‚ist darum ganz korrekt, wenn man schon seit langer 
Zeit, mit Entschiedenheit aber seit dem Auftreten der idea- 
listischen Philosophenschule, behauptet hat: der Gehalt der 
Kunst ist das Wahre und das Gute. Der Gehalt des Schönen 
sind die beiden andern Ideale des Geistes, oder wie wir 
vielleicht besser sagen können: das Streben des Geistes, das 
sich Erheben des Geistes zu diesen Idealen. 
1928
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.