17 Erster Teil. Viertes Buch.
Es handelt sich nun darum, die sozialpolitische Leistung Mores
in ihren Hauptpunkten zu würdigen. Diese hat es zunächst mit den
sozialen Gebresten des damaligen Englands zu thun. Hier deckt More
mit Scharfsinn und Kühnheit die Übergriffe der grofsen Grundeigentümer,
die volkswirtschaftlich unheilvolle Richtung jenes Luxus, der sich im
Halten von „Gefolgschaften“ äufserte, die falschen Wege, in die sich
die englische Landwirtschaft zu verlieren drohte, auf. Es ist der rück-
sichtsloseste und eindringlichste Protest, der aus den Kreisen der katho-
lischen Humanisten (deren Haupt damals der — bald nachher zur Reichs-
kanzlerwürde gelangte — Kardinal Wolsey war) gegen jene Übel er-
hoben wurde, und der mit gesetzgeberischen Aktionen parallel ging. Vor
allem aber zeugt es von Mores tiefer volkswirtschaftlicher Einsicht, dafs
er es bei der Untersuchung über die Ursachen der Armut zur Erkennt-
nis gebracht hat, dafs die Arbeitslosigkeit in weitem Umfange unver-
schuldet sein könne: die These allein, dafs es viele Menschen in Eng-
land gäbe, „quorum operam nemo est qui conducat, cum ılli cupidissime
offerant“, würde ausreichen, uns das Anerkenntnis abzunötigen, dafs
Mores soziales Denken sich turmhoch über die Simplicität des volks-
wirtschaftlichen Denkens seiner Zeitgenossen erhob. Er hat damit that-
sächlich den Finger an das schlimmste Übel gelegt, das sich in der ka-
pitalistisch organisierten Volkswirtschaft, wie sie sich damals in England
aus der alten zünftigen Ordnung heraus eben zu entwickeln begann, als
Konsequenz des sich selbst überlassenen Verkehrs ergiebt. Auch hat er
die Form des Übels, wie unsere Darstellung der sozialen Lage des da-
maligen Englands gezeigt hat, prinzipiell richtig gekennzeichnet, nur
freilich hat er, wie das häufig tiefsinnige Kritiker zu thun pflegen, den
Umfang» und die Tragweite jener Nöte — die lange nicht so allgemein
waren, wie man nach Mores Schilderung annehmen mufs — ungeheuer
überschätzt und überdies nicht bemerkt, dafs eben jener wirtschaftliche
Prozefs, mit dem die Deeimierung des Bauernstandes anhub, zugleich
die wunderbare gewerbliche Entwickelung Englands einleitete. Der eben
aufkommende ökonomische Individualismus hat trotz vieler Übel, die er
im einzelnen mit sich brachte, gerade zu Englands Gröfse, Weltstellung
und Reichtum geführt, —- es bahnte sich also damals ein weltgeschicht-
licher Fortschritt an, nicht die Decadence des Landes, wie More meint.
Trotzdem mufs man. zugestehen, dafs solche übertreibenden Kritiken not-
wendig sind, damit die Staatsgewalt einschreite und jene einzelnen
Härten, die grofse volkswirtschaftliche Entwickelungsprozesse zu begleiten
pflegen, ausgleiche.
Während nun die anderen Humanisten — wie z. B. der in dieser Zeit
ebenfalls in England wirkende Vives — sich mit einigen Reformvor-
schlägen zur Verhütung von Notständen und zur Versorgung der Armen
begnügten, gine .More allem Übel radikal zu Leibe, indem er eine neue
5
>