Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

190 Erster Teil. Viertes Buch. 
ausging: dafs die Indianer Kinder seien, die in steter, aber wohlwollen- 
der Zucht erhalten werden müfsten, — und dafs die einzige Möglichkeit, 
sie einigermafsen der Civilisation zu gewinnen, in ihrer strengen Einordnung 
in ein System des autoritären Kommunismus bestände, das keine hab- 
süchtigen Triebe aufkommen liefse. Dafs hiermit die Psyche der Guaranis 
richtig beurteilt worden war, zeigt die anderthalbhundertjährige Geschichte 
dieses Jesuitenstaates (1610—1768), bei dessen Organisation im einzelnen 
übrigens auch die Rücksicht auf einheimische Institutionen, z. B. die ur- 
wüchsige Gentilverfassung der Indianer, und die Erinnerung an den Kom- 
munismus in dem von den Konquistadoren zerstörten Inkareiche mitge- 
spielt haben mögen. 
Der neue Staat bestand aus im ganzen 31 Niederlassungen, den 
sog. „Reduktionen“, die von 100—150 Jesuiten geleitet wurden, — den 
einzigen Europäern, die im Lande lebten, denn allen Anderen war der 
Zutritt verboten, da die Jesuiten mit sicherem Blicke die Unmöglichkeit eines 
Zusammenlebens von Indianern und Weifsen erkannt hatten. Dies Prinzip 
konnte darum durchgeführt werden, weil der Orden es beim Könige von 
Spanien durchzusetzen gewufst hatte, dafs die von ihm eingesetzte Re- 
gierung Niemandem Rechenschaft schuldig sein sollte, als allein der Krone, 
und dafs sie auch nur an diese eine jährliche Abgabe — eine Kopf- 
steuer, die im ganzen abgeführt wurde — zu zahlen hätte, dagegen 
von den sonst in den. Kolonien an die Bischöfe zu entrichtenden Zehnten 
dispensiert sein sollte. 
An der Spitze der Regierung stand der Jesuiten-Provinzial; ihm 
waren — der Hierarchie des Ordens entsprechend — die Superloren ver- 
antwortlich, und diesen wieder die Pfarrer, die die einzelnen Missionen 
leiteten; den unmittelbaren Verkehr mit den Eingeborenen hatten die den 
Pfarrern beigegebenen Vikare zu unterhalten, die darum auch der Sprache 
der Guaranis mächtig sein mufsten. Bei diesem System war aber zugleich 
der Selbstverwaltung ein gewisser Spielraum gegönnt: denn die Verwaltung 
jeder Gemeinde lag in den Händen einer Behörde, deren Mitglieder Jahr 
für Jahr direkt von den Indianern aus ihrer Mitte gewählt wurden. Freilich 
galt es als selbstverständlich, dafs diese Behörde nichts Ernstes unternahm, 
ohne vorher den mafsgeblichen Rat der Geistlichen eingeholt zu haben. 
Der Staat, d. h. also im vorliegenden Falle der Orden, hatte alles 
Land und Kapital zu eigen, und ebenso verfügte er ganz nach Belieben 
über die Arbeitskraft aller Bewohner. Jeder von ihnen war zur Arbeit 
verpflichtet und erhielt von der Obrigkeit seinen Platz angewiesen: „die Auf- 
gabe — sagt der Geschichtsschreiber des Jesuitenstaates, CHARLEVOIX — 
war den Kräften angemessen, und wer sie nicht erfüllte, wurde in Strafe 
genommen“. Jeder im Ackerbau beschäftigte Indianer erhielt ein Stück 
Land zugeteilt, das er zwei Tage in der Woche bearbeiten mufste, um 
die für seinen Unterhalt nötigen Früchte zu erhalten. Die anderen Tage
	        
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