Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

192 Erster Teil. Viertes Buch. 
sorge getroffen. Am Sonntag durfte nicht gearbeitet werden; er war viel- 
mehr für den Gottesdienst sowie für gottwohlgefällige Werke, wie Taufen, 
Verlobungen und Eheschliefsungen bestimmt. Am Montag wurden die 
Indianer, die im Falle des Krieges dienstpflichtig waren, in den Waffen 
geübt. An bestimmten Tagen wieder wurden Tänze arrangiert, und dann 
durften sich die Indianer erholen, um „ihre Gesundheit wie auch eine 
Fröhlichkeit zu erhalten, die, weit entfernt, der Tugend zu schaden, sie viel- 
mehr lieben macht“ (CHARLEVOIX). Der Namenstag des Schutzheiligen der 
Mission wurde durch ein glänzendes Fest gefeiert, mıt Umzügen, Schmäusen 
und Schaustellungen. So war hier Alles reglementiert: „und ganz gewißs“, 
erklärt GREGORIO Fungs, der Dechant von Cordova (Südamerika) in seiner 
Beschreibung dieser christlichen Republik, „war das nicht die Freiheit, die 
dem Ideale einer Republik entspricht, — aber was wäre thörichter gewesen, 
als eine Freiheit zu gewähren, die mıt dem Charakter und den Lebens- 
bedingungen dieser Indianer unvereinbar war? Durch die Barbarei, in 
der sie früher gelebt, daran gewöhnt, sich ausschliefslich von den 
Wünschen des Augenblicks leiten zu lassen, ohne je über die Gegenwart 
hinaus zu denken, und — unter der steten Herrschaft der Leidenschaft 
— nie der Vernunft gemäfs zu handeln, mufsten sie einige Jahrhunderte 
sozialer Kindheit durchleben, ehe sıe jene Reife erlangten, die die Vor- 
aussetzung des vollen Gebrauchs der Freiheit ist. Der Zeitpunkt, ihnen 
diese zw geben, war noch nicht gekommen, und so mufsten die Indianer 
etwa so regiert werden, wie ein Vater seine Familie regiert“. Patriarchalisch 
war auch die Art, wie die Befolgung der erlassenen Vorschriften gesichert 
wurde. Gesetze gab es nicht; vielmehr verhängte der Pfarrer über dıe In- 
dianer, die sich vergangen hatten, je nach der Lage des Falles — aber immer 
ganz nach seinem freien Ermessen — entsprechende Strafen wie Gebete, 
Fasten, Auspeitschung und Gefängnis. Um Übertretungen zu entdecken, war 
eine Polizei aus Eingeborenen organisiert. In den meisten Fällen aber be- 
kannten die Indianer selber ihre Schuld, da sie andernfalls für ihr Seelenheil 
fürchteten. „Nie“, sagt Fungs, „hat Einer von ihnen versucht, seine Fehler 
kleiner erscheinen zu lassen oder seiner Strafe zu entgehen. Alle nahmen ihre 
Bestrafung mit Dankesbezeugungen entgegen. Es gab Indianer, die nur ihr 
Gewissen als Zeugen ihrer Fehler hatten, aber ihre Verfehlungen bekannten 
und ihre Bestrafung forderten, um ihre Gewissensbisse zu mildern, die 
quälender als Strafen waren.“ Die Jesuiten hatten eine so vollkommene 
moralische Macht über die Eingeborenen, dafs diese sich nie zu KEx- 
cessen hinreifsen liefsen. So kam es, dafs der Jesultenstaat das einzige 
orößfsere Gemeinwesen in der Weltgeschichte ist, das niemals die Todes- 
strafe oder auch nur die Strafe der lebenslänglichen Einkerkerung zu 
verhängen brauchte. „Die Ohrenbeichte — konnte ein radikaler Auf- 
klärer des 18. Jahrhunderts, RAYNAL, der aber bewundernd zu den hier 
mitten im Urwald geschaffenen Institutionen aufblicekte, schreiben —, die
	        
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