Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

4. Kapitel. Lessings idealer Weltbund. 2653 
Menschen, die sich einen gewissen geistigen Vorzug streitig machen und 
darauf Rechte gründen, die dem natürlichen Menschen nimmermehr ein- 
fallen könnten. So kann der Staat die Menschen nicht trennen, ohne 
Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hin 
zu ziehen! Aber nicht genug daran, so setzt er die Trennung der 
Menschen auch innerhalb der verschiedenen Verbände gleichsam bis 
ins Unendliche fort. Denn kein Staat läfst sich ohne Verschiedenheit 
von Ständen denken: unmöglich können alle Glieder desselben unter sich das 
gleiche Verhältnis haben, — es mufs unter ihnen vornehmere und geringere, 
reichere und ärmere Glieder geben. Und nun überlege man, „wieviel 
Übles es in der Welt wohl giebt, das in dieser Verschiedenheit der Stände 
seinen Grund nicht hat“? Alle jene schlimmen Konsequenzen des 
Lebens im Staate werden die Menschen so lange auszuhalten haben, bis 
sie einmal in einer fernen Zukunft dahin kommen werden, den Staat 
selber zu vernichten. Dies Ziel ist zu erreichen: Ordnung kann auch 
ohne Regierung bestehen, wenn jedes Individuum sich selbst zu re- 
xijeren. weifs! Das beweist schon. die Betrachtung eines Ameisenhaufens: 
Alles trägt und schleppt und schiebt, sie helfen einander, und keines ist 
dem anderen hinderlich, — und sie haben doch Niemanden über sich, 
der sie zusammenhält und regiert! Und so wies Lessing deutlich genug 
auf den anarchistischen Idealzustand als Ziel der Menschheitsgeschichte 
hin. „Er sah — berichtet sein Freund F. H. JAcogpı (1781) -— das Lächer- 
liche und Unseligmachende aller moralischen und politischen Maschinerieen 
auf das Lebhafteste ein. In einer Unterrednung kam er einmal so sehr 
in Eifer, dafs er behauptete, die bürgerliche Gesellschaft müsse noch ganz 
aufgehoben werden, und so toll dieses klingt, so nah ist es dennoch der 
Wahrheit. Die Menschen werden erst dann gut regiert werden, wenn 
sie keiner Regierung mehr bedürfen!“ Als Voraussetzung dafür galt ihm 
die innere Umwandlung der Menschen: sie sollten einander mit Sanft- 
mut, herzlicher Verträglichkeit und Liebe entgegenkommen, gemäfs dem 
Testamente Johannis des Evangelisten, „Filioli diligite alterutrum“, — 
Lessings Lieblingsspruche. Diese innere Umwandlung sollte herbeigeführt 
werden durch einen freien Bund der „Edelsten und Weisesten“, die sich 
die Hände reichen über alle nationalen, religiösen und bürgerlichen 
Standesunterschiede hinweg zur Pflege des höchsten Humanitätsideals, — 
durch den idealen Freimaurerbund, der Lessings Traum und Erwartung 
war und sein Trost in den Tagen der Schwermut, wo er an der Vorsehung 
und dem Siege der Tugend irre geworden. Keineswegs sollte es aber 
Aufgabe des Bundes sein, im politischen Leben unmittelbar refor- 
mierend zu wirken. „Die Freimaurer haben es freiwillig über sich ge- 
nommen, den unvermeidlichen Übeln des Staates entgegenzuarbeiten, — 
nicht dieses und jenes Staates. Nicht den unvermeidlichen Übeln, 
welche. eine zewisse Staatsverfassung einmal angenommen, aus dieser
	        
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