Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

1. Kapitel. Die soziale Frage im Altertum. ‘5 
diam avocarı putabant et aerarlum exhauriri videbatur“. Da von all 
den sozialen Anläufen der Gracchenzeit nur die Getreidespenden sich 
erhielten, war deutlich bewiesen, dafs es mit der alten republikanischen 
Römerherrlichkeit zu Ende ging, weil eine Erhaltung oder gar Kräftigung 
des Bauernstandes diesem Volk nicht mehr möglich war, sondern nur 
eine Erhaltung und Kräftigung des Lumpenproletariats. Wirklich haben 
auch die Versuche der nächsten Zeit, zumal Sullas und Cäsars, das städ- 
tische Bürgerproletariat mit Land zu versehen, kein befriedigendes Er- 
gebnis gehabt. So konnte es sich schliefslich nur noch um die Befrie- 
digung seiner wichtigsten Bedürfnisse handeln, damit es sich ruhig ver- 
halte und den Verlust seiner zu Zeiten recht einträglichen politischen 
Rechte verschmerze, da ja „mit der Republik und den republikanischen 
Wahlen die Bestechung und Vergewaltigung der Wahlkollegien, über- 
haupt die politischen Saturnalien der Kanaille von selbst ein Ende hatten“ 
(MommMsEn). Aus diesem Grunde mulfste die Sozialpolitik dieser Epoche 
an die durch Cajus Gracchus eingeführten und seitdem immer umfang- 
reicher gewordenen Getreidespenden anknüpfen. Zur Zeit Julius Cäsars 
war es schon dahin gekommen, dafs es in Rom 320 000 Kornempfänger 
gab. Offenbar waren viele Unberechtigte darunter, denn der Diktator 
— der auch durch Begründung von Kolonien einen Abzugskanal zu 
schaffen suchte — verfügte, dafs künftig nur 150000 Mann an den 
staatlichen Kornlieferungen Anteil haben sollten. Aber nach Cäsars 
Tode kehrte man sich nicht mehr an die Verordnung, und bald war 
die Zahl der Kostgänger des Staates wieder auf 200000 angeschwollen. 
Augustus erkannte, wenn wir Sueton glauben dürfen, das Gemeinschäd- 
liche dieser Institution — die Belastung der Staatskasse, die Demorali- 
sierung des Volkes und die Schädigung der italischen Landwirtschaft —, 
aber er sah sich aus politischen Rücksichten aufser stande, das unglück- 
liche System abzuschaffen. Er hatte eben eingesehen, dafs der Hunger 
die vornehmste Ursache der Revolution zu sein pfleyt. Und deshalb 
war es gerade Augustus, der das System der Getreideverteilung reorga- 
nisierte und auf eine technisch vollkommenere Grundlage stellte... An der 
Spitze standen die Getreidepräfekten (praefecti annonae), die zur Erfül- 
lung ihrer Aufgabe über die kaiserliche Kornflotte und ein ganzes Heer 
von Beamten und Dienern Verfügung erhielten. Die Ausgabe des Ge- 
treides erfolgte monatlich auf dem Marsfelde an 45 Schaltern, und die 
Ordnung wurde dadurch hergestellt, dafs jeder Empfänger umsonst eine 
Marke erhielt, die ihn berechtigte, seinen Teil an einem bestimmten Mo- 
natstage an einem ausdrücklich bezeichneten Schalter zu erheben. Aufser- 
dem wurden bei aufserordentlichen Gelegenheiten — sei es bei beson- 
deren Festlichkeiten, sei es bei Hungersnöten — noch besondere Gaben, 
Geld oder abermals Lebensmittel, .yerteilt. Wenn nun der grofse Haufe 
nicht durch Arbeit in Anspruch genommen ist und sich auch nicht mit
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.