Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

26 Erster Teil. Erstes Buch. 
auf die Dauer mufsten alle Bestrebungen dieser Art ohnmächtig sein, 
denn die Demokratie war viel zu fest in der Volksseele verankert, als 
dafs in Athen — ohne starken Druck von aufsen — ein anderes Regi- 
ment möglich gewesen wäre. Und dafs dem so war, ist nicht zum 
mindesten die Folge der eigenartigen — auf die Massen unerhörte 
Liebesgaben häufenden — Sozialpolitik Athens, so dafs diese als Wir- 
kung und zugleich wiederum als Ursache der Demokratie aufzufassen 
ist: als Wirkung, denn die herrschende Masse wollte die Mittel des 
Reiches zu ihren eigenen Gunsten verwenden und konnte ausschliefslich 
bei Alimentierung von Staats wegen ihre verfassungsmäfsigen Rechte 
im Volksgericht und in der Volksversammlung wahrnehmen, — und als 
Ursache; denn nur die Befriedigung der materiellen Gelüste kettete 
die Plebs unauflöslich mit all ihrem Denken und Fühlen an die Ver- 
fassung uud stellte darum deren Fortbestand auf die Dauer vor jedem 
Angriff unbedingt sicher, wie ja auch die Geschichte durch den Sturz 
der oligarchischen Regierungen (411 und 404 v. Chr.) bewiesen hat. Die 
hierin begründete Unüberwindlichkeit des Demos ward schliefslich so 
offenbar, dafs selbst jener anonyme aristokratische Verfasser der Schrift 
vom „Staate der Athener“ seinen Mut für immer sinken liefs und die 
praktischen Pläne seiner heifsblütigen Gesinnungsgenossen mifsbilligte. 
— Und aus demselben Grunde hörten im 4. Jahrhundert, wo sich dies 
Gefühl den höheren Ständen allgemein mitgeteilt hatte, die Umsturz- 
versuche von innen heraus völlig auf. Umsomehr aber ergehen sich 
bei der hochbegabten, geistreichen und zu philosophischem Grübeln ge- 
neigten Nation die Theoretiker in der Kritik-der bestehenden Demo- 
kratie wie in der Konstruktion besserer Zustände. 
Bei _„Sokrates_scheint, soweit sein Bild heute überhaupt noch re- 
konstruierbar ist, die Kritik überwogen zu haben: Alles soll sich vor 
dem Richterstuhle der Vernunft rechtfertigen oder unerbittlich abgetragen 
werden. Dem entsprechend bildet den Kern seiner politischen Gedanken- 
gänge die Ausführung: überall sonst im Leben pflege man einen Beruf 
zu erlernen, ehe man ihn ausübe, blofs in der Politik dürfe man sich 
bethätigen, ohne vorher irgendwelche Proben der Befähigung abgelegt 
zu haben, zumal unter der athenischen Verfassung, wo das Los den 
Zutritt zu den Ämtern eröffne. Und so giefst er seinen Spott aus über 
das regierende Volk von Athen, diesen „unwissenden und impotenten 
Haufen von Walkern, Schustern, Zimmerleuten, Schmieden, Bauern, Händ- 
lern und Krämern, die sich nie in der Politik umgesehen“ ! (vergl. PLATOs 
„Gorgias“). Und beraten, wie er es häufig ist, von seiner privaten gött- 
lichen Stimme, dem Dämonium, proklamiert er vor dem attischen Volks- 
gericht das Prinzip, dafs es einen inneren Beruf gäbe, dem man zu folgen 
habe, allen staatlichen Einrichtungen und Gesetzen zum Trotz, — und 
er führt dadurch selbst mit fast schadenfroher Konseauenz seinen Unter-
	        
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