36 Erster Teil. Erstes Buch.
als weitere Ursache für sein merkwürdiges -Stillschweigen über die
Lebensverhältnisse und Lebensordnung der Masse. der Bevölkerung, ‘die
einfach ihrem Erwerbe nachgeht, sein philosophischer' Hochmut. mitge-
wirkt: in seinen Augen sind eben alle jene, die nicht tagaus tagein ein
den höchsten sittlichen Pflichten und dem Nachdenken über. die Pro-
bleme des Alls gewidmetes Leben führen, minderwertige Menschen, —
Leute, die am Zufälligen und Vergänglichen haften, deren Freude und
Schmerz, vergänglicher Genufs und :eitle Pein der Teilnahme des Denkers
keineswegs würdig sind. — —
So sieht also der gute und gerechte Staat aus, der einzige, der die
vier Kardinaltugenden des Menschen verwirklicht. Denn dieser Staat
ist wohlberaten, da ja die Weisesten allein. mafsgebend sind, — er
repräsentiert die Tapferkeit, da seine Krieger ein Heer bilden, der-
gleichen die Welt noch nicht gesehen, — er erscheint als Inkarnation
der Besonnenheit, weil die Herrschenden Herren ihrer Lüste und
Begierden und die Unterthanen jenen unbedingt gehorsam sind, und
so überall vollkommene Harmonie hergestellt ist, — er stellt endlich den
Triumph der Gerechtigkeit dar, da Jeder das thut, wozu er sich
seiner Natur nach am geschicktesten eignet, und nicht die Kreise Anderer
stört, sodals die Devise des Suum cuique realisiert ist. /
Von der Höhe dieses Standpunkts aus mufs Plato natürlich zur
Verwerfung aller bisherigen Verfassungsformen gelangen. Als wichtig
ist aus dieser Kritik nur hervorzuheben, dafs er, der strenge Sozial-
aristokrat, von der Herrschaft des blofsen Geburts- oder gar Geldadels
nichts wissen will und manchen Pfeil gegen die beschränkte und gleich-
gültig dem Genuls des Tages lebende Aristokratie und Plutokratie richtet.
In der alten Staatsordnung waren im wesentlichen nur unvernünf-
tige, wenig sachverständige und eigennützige Männer dazu berufen, das
Staatsruder zu lenken: darum kam auch des Übels soviel über diese
Welt. — Wandel kann erst im Staate der Zukunft geschaffen werden, der
von Philosophen geleitet ist als gerechten und edelmütigen Männern,
die „Gröfse der Denkungsart und Übersicht der ganzen Zeit und alles
Seins“ haben. Darum ist es notwendig, dafs „entweder die Philosophen
Könige werden in den Staaten oder die jetzt sogenannten Könige und
Gewalthaber wahrhaft gründlich philosophieren und also dies Beides
zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie“.
Derart klingt diese Staats- und Sozlalphilosophie, etwas melancholisch,
in den Wunsch aus: es möchten doch Söhne von Königen oder Gewalt-
habern mit philosophischer Natur geboren werden, „Einer, der einen
folesamen Staat findet, ist genug, um Alles ins Werk zu richten, was
ietzt so unglaublich befunden wird“ (PLATO).