42 Erster Teil. Erstes Buch.
die idealen Schöpfungen kommunistischer Lebensgestaltung durch sicht-
bare und unsichtbare Fäden mit Platos Politeia verknüpft sind!
Wie anderseits diese mit Sokrates anhebende sozialethische Bewegung
in Griechenland selbst nie recht populär wurde — sehr begreiflich, da
sie den unteren Klassen aristokratische Ideale und den oberen sittliche
Einkehr predigte —, so mufste die Politeia, die jene Prinzipien auf die
höchste Spitze trieb, erst recht ohne Wirkung auf ihre Zeitgenossen sein.
Und zumal ihr Kommunismus war den Vielzuvielen ganz besonders un-
verständlich; denn das Volk war damals weder zu sehr angestrengt, noch
litt es bittere Not, und das bestehende Staatswesen war in materieller
Hinsicht längst das Mittel, die Reichen zu Gunsten der Massen zu
schröpfen, — für das Volk also war der Gegenwarts-Staat das ideale Ge-
meinwesen, und jener aristokratisch-kommunistische Zukunftsstaat mulste
ıhm wie ein böser Traum vorkommen.
Daher darf uns nicht wundernehmen, wenn die Wirkung speciell
der Politeia auf die nächsten Zeiten keine grofse war, und wenn schon
zweihundert Jahre nach ihrer Publikation Polybius gesteht, dafs ihre
Lektüre auch dem gebildeten Griechen schwer falle. —
Damit scheinen die Hauptzüge des sozialaristokratischen Ideals, wie
es von dem griechischen Weisen formuliert worden ist, einigermafsen
genetisch erklärt zu sein. Freilich bleibt bei dieser wie bei jeder Inter-
pretation ein unerklärbarer Rest: das ist jenes Element der geistigen
Schöpfung, von dem kein Forscher die Hülle hinwegzuziehen vermag,
weil es unmittelbar- aus dem geheimnisvollen Wesen der individuellen
Persönlichkeit entspringt, von dessen Ursprung kein Sterblicher zu mel-
den weils.
2. Zur Kritik der Politeia. Angesichts einer monumentalen Geistes-
schöpfung der Vergangenheit wie Platos Politeia ist die wesentliche Auf-
gabe des Sozialpolitikers erledigt, wenn es ihm gelungen ist, ihr Werden
und Wachsen aus ihrer Zeit heraus und damit ihre Bedeutung für jene
Zeit einigermafsen begreiflich zu machen. Dagegen erscheint eine bis in
die Einzelheiten gehende Kritik heute keineswegs vonnöten. Hier können
wir uns damit begnügen, einige Hauptgesichtspunkte hervorzuheben.
Vor allem mufs den objektiven Leser frappieren, dafs Plato jahr-
zehntelang sein Staatsideal für realisierbar gehalten und thatsächlich Ver-
suche in dieser Richtung unternommen hat: da sich hierin eine totale
Verkennung der menschlichen Natur kundgiebt. Die gröfsten Philo-
sophen sollen abwechselnd absolute Herrscher sein, — als ob die philo-
sophische Erkenntnis und ein hoher moralischer Sinn die Kriterien für
die Herrschertugenden seien, und nicht vielmehr ganz andere Eigenschaf-
ten wie Scharfblick für die Mafsnahmen des Augenblicks, Fähigkeit,
Menschen zu beurteilen und zu behandeln, organisatorische Begabung,
und, wenn möglich, genialer Instink£t für die Bedürfnisse der Epoche