Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

3. Kapitel. Kritische Würdigung des platonischen Kommunismus. 45 
den Klassen alles Unreine, Sinnliche, ja Individuelle ihres irdischen Da- 
seins ausgelöscht haben und die wahre Sittlichkeit als höchsten Leitstern 
ihres Fühlens und Handelns ansehen, die regierten Klassen aber jenen 
Repräsentanten des Guten und Gerechten auf Erden gerne gehorchen. 
Betrachten wir nun zum Schlufs dies Werk vom Standpunkte einer 
noch höheren Warte. Die platonische Staatsidee stellt eine Illusion 
dar, an der sich der Meister — das Haupt der Opposition der gebildeten 
und vornehmen Welt gegen die herrschende Demokratie — und seine 
Anhänger berauschten. Das ist unzweifelhaft. Damit ist freilich zunächst 
noch gar nichts gegen die fraglichen Vorschläge — so ernstgemeint und 
für die Praxis berechnet sie auch sein mochten — gesagt. Denn objektive 
Wahrheit ist nicht ein unbedingtes Erfordernis für das, was gesagt wird, 
die Menschen zu bessern und zu bekehren, — und häufig genug sind 
in der Weltgeschichte genial ersonnene Irrtümer unendlich wichtiger für 
den Fortschritt geworden als nahe- oder auch fernliegende Wahrheiten. 
Anderseits haben wir festgestellt, dals die Illusionen nicht von 
einerlei Natur sind, sondern dafs sie als produktiv aufgefafst werden 
müssen, wenn sie das aufsteigende Leben einer Nation einleiten, und als 
konträrsozial, wenn sie zur Entartung der Politik, Kultur, überhaupt 
des Volkslebens beitragen (vergl. GEORG ADLER, Kampf wider den 
Zwischenhandel, Kapitel „Illusion und Suggestion in der Sozialpolitik“). 
Soweit nun der platonische Staat einen politischen Reformvorschlag 
darstellt — daher auch rein unter dem politischen Gesichtswinkel be- 
trachtet —, mufs er zur zweiten Kategorie gerechnet werden; denn er 
bewies, dafs grade die höchststehenden Elemente der Nation in ihrer 
Opposition gegen das Regime der Demokratie kein anderes Mittel mehr 
kannten wie die Flucht in die Illusionen gänzlich utopischer Reformpläne, 
die, wie bemerkt, nicht lange nachher selbst in Hellas nicht mehr recht 
verstanden wurden. Für den Kenner der politisch -sozialen Geschichte 
Athens freilich keine Überraschung: denn eben weil in Wirklichkeit die 
auf der Fütterung der Volksmassen basierende und dadurch in der attischen 
Volksseele verankerte radikaldemokratische Verfassung von innen heraus 
auf die Dauer gar nicht geändert werden konnte, gabs auch, trotz aller 
theoretischen Negation des Bestehenden, keinen wahrhaften Reform- 
plan, kein realisierbares Programm für einen Neubau! So mufste die 
politische Spekulation des geistreichen und. hochbegabten Volks kulmi- 
nieren in der reinen Utopie, — in der genialen Staatsschöpfung Platos, 
wo keine Menschen mit Fleisch und Blut wandeln, sondern nur bleiche 
Schemen, in der Retorte der sozialen Alchymie gezeugte schattenhafte 
Existenzen, die keine Leidenschaften kennen und nach schlau ersonnenen 
Tugendregeln ihre Exerecitien machen.
	        
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