. Erster Teil. Erstes Buch.
Ganz anders wird natürlich unser Urteil lauten müssen, wenn wir
die Politeia nicht im ihren politischen Teilen, sondern in ihren ethischen
und metaphysischen Partien, also als Partikel des grofsen, an den Namen
Platos geknüpften Systems betrachten. Dann enthüllt diese unvergleich-
liche Philosophie dem Betrachter ihr völles Janushaupt, und sie zeigt sich
nunmehr als der Ausgangspunkt einer gewaltigen Geistesströmung, die
schliefslich — zusammen mit einer Reihe anderer Faktoren — den Sturz
der antiken Götteryerehrung, ja der ganzen antiken Welt- und Lebens-
anschauung herbeiführt und in der Schaffung einer neuen Religion endet,
welche die antike. Civilisation wie mit einem Leichentuche umhüllen und
gleichzeitig eine neue Epoche aufsteigenden Völkerlebens heraufführen
sollte. Und so erscheint die platonische Philosophie als Ganzes, sub
specie aeternitatis betrachtet, als ein wichtiges Element, um die antike
Welt in Schutt und Staub zu verwandeln, zugleich aber aus ihrer Asche
den glänzenden Phönix der christlichen Kultur erstehen zu lassen. —
4. Kapitel. Zenos idealistischer Anarchismus.
„Nehmt Kiesel, thut sie in eine Schachtel und schüttelt sie:
sie werden sich dann von selbst zu einem Mosaik zusammen-
finden, wie ihr nie eines erhieltet , wenn ihr Jemandem den
Auftrag gebt. sie harmonisch zu ordnen.“ FOURIER.
1. Darstellung und Kritik von Zenos Gesellschaftsideal. Das Wort
„Anarchismus“ als Bezeichnung einer idealen Gesellschaftsverfassung
ist neu, aber der Begriff selber — wenn man ihn richtig als Gesell-
schaftsordnung mit denkbar gröfster Autonomie der Individuen und mög-
lichster Abwesenheit jedes obrigkeitlichen Zwanges auffalst — ist alt.
Denn in jeder kulturgeschichtlichen Epoche der Menschheit, wo das
Prinzip des Individualismus sich Bahn gebrochen, taucht zugleich als
äufserste Konsequenz individualistischer Anschauungen das Postulat des
Anarchismus auf. Giebt es eine breite Geistesströmung, die in der vollen
Entwicklung der individuellen Kräfte das höchste Ziel der Gesellschaft
erblickt, — so wird unter den vielfachen Variıationen desselben Gedankens,
die der menschliche Geist jeweilig hervorsprudelt, auch immer einmal
die Ansicht auftauchen: dafs die Kräfte der Individuen sich bei ihrer
völligen Freiheit am vollkommensten entwickelten, und dafs folgerecht
die Gesellschaft jeglichen Eingriff in ihre Autonomie unterlassen mülfste.
So geschah’s im Altertum ebenso wie im Mittelalter und in der neuen Zeit.
Im einzelnen war der antik-hellenische (von der bisherigen Ge-
schichtschreibung noch nicht erforschte) Anarchismus — ebenso wie
zuvor der platonische Kommunismus, sein polarer Gegensatz — eine
Frucht der mächtigen, mit Sokrates anhebenden sozialethischen Reform-
bewegung: gegenüber der Gemeinschaft der Güter und der Staatsomni-
potenz zum Zwecke höchsten moralischen Gemeinschaftslebens, wie Plato
LA