4. Kapitel. Zenos idealistischer Anarchismus. 4
sie gepredigt, wurde von Zeno, dem Stifter der stoischen Schule (342.
bis 270 v. Chr.), die freie staatlose Gemeinschaft zum selben Zweck als
Zukunftsideal gepriesen.
Auch Zenos politisch-soziale Lehre kommt ebensowenig wie früher
die platonische „wie aus der Pistole geschossen“, sondern sie hat ihre
Vorgeschichte, deren Grundzüge trotz der trümmerhaften Überlieferung
noch einigermalsen rekonstruierbar sind. Schon ein Schüler des Sokrates,
Aristipp (der Begründer der hedonistischen Schule), hatte vom Stand-
punkte seiner egoistischen Genufslehre aus Nichts mit dem Staate zu
thun haben wollen. Der Weise — lautete sein Räsonnement — kenne
kein köstlicheres Gut als die Freiheit und müsse sich darum dem Staats-
leben zu entziehen suchen, das die individuelle Freiheit mindestens par-
tiell unterdrücke. ‚Wozu überhaupt-ein- Vaterland, „wo doch jedes Stück-
chen Erde vom Hades gleich weit entfernt sei“? Danach ist auch zu
begreifen, wie er dem Sokrates auf die Frage, ob er lieber zur herrschen-
den oder zur beherrschten Klasse im Staate gehören möchte, die Ant-
wort geben konnte: „Keiner von Beiden“! Und ähnliche Ansichten sind
uns natürlich auch von Anhängern der von Aristipp gestifteten Schule
überliefert.
Eine andere Gedankenrichtung, die noch klarer in den Anarchismus
münden mufste, war mit der Lehre vom Naturzustande gegeben,
die seit dem 5. Jahrhundert aufkam. Hier wurde — mehr als zwei
Jahrtausende vor Rousseau! —- die Rückkehr zur Natur gepredigt. Die
politische Litteratur malte die Urzeit als eine Art paradiesischen Zu-
standes der Menschheit aus, wo freilich die Kulturgüter noch mangelten,
die Menschen aber in Frieden und Harmonie glücklich dahinlebten.
Diese Auffassung hat sich selbst Plato gelegentlich zu eigen gemacht,
und sie wird auch später in dem hellenischen Hauptwerke über die
Kulturgeschichte des Landes, in Dikäarchs „8ioc Eiiddog“, vertreten.
Und hier findet sich der naheliegende (und sicherlich auch schon früher
ausgesprochene) Schluls: jene soziale Harmonie sei die Folge der Be-
dürfnislosigkeit der Menschen in einem Zustande, wo kein Gegenstand
eine genügend grofse Schätzung erfahre, um als Strebeziel starken Be-
gehrs und Kampfes zu gelten.
An Gedankengänge solcher Art mufste nun die eynische Schule
ganz von selbst anknüpfen. Der Bedürfnislose war ihr Menschen-
ideal, denn er war unabhängig von Menschen und Dingen und somit
einzig wahrhaft frei: folglich war ihr soziales Ideal — wie das einem
Zeitalter niedergehenden politischen Lebens in Hellas entsprach — natür-
lich ein Zustand, der dem eben beschriebenen mehr oder minder gleichen
mufßste, und so pries sie auch wirklich als Höchstes ausdrücklich die
Selbstgenügsamkeit der ersten Menschen. Zugleich war damit das Zu-
sammenstimmen Aller, die öuovoı«x, das Ziel der zanzen ethisch-politi-
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