4. Kapitel. Zenos idealistischer Anarchismus. 49
werden, wie in der äufseren Natur, auch im natürlichen Zusammenleben
der Menschen herrschen, und so werden die Menschen das Bild einer
friedlich zusammenweidenden Heerde darbieten, indem sie im kleinen
Ein Ganzes darstellen, wie der von einem einheitlichen Gesetze regierte
Kosmos im grofsen.
Alle handeln also gemäfs dem in der Natur selbst liegenden Gesetze,
das in den Gemütern lebendig geworden ist. Und dieses Gesetz gebietet, die
Nächsten, ja Alle, mit denen man irgend in Berührung kommt, zu lieben.
Charakteristisch ist für diese Auffassung Zenos, dafs Eros als Gott dieses
Gemeinwesens angerufen wird: Alle, die Menschenantlitz tragen, sollen unter
einander verbunden sein, wie Mann und Jüngling in erotischem Verhältnis.
Wo aber Jedem das ihm zukommende freiwillig gewährt wird, ja
eitel Eintracht und Liebe herrscht, da finden keine Verfehlungen statt.
Und folgerecht sind hier Gericht und Polizei verbannt. Da ferner der
Mensch dem obersten Sittengesetz folgen kann, ohne dafs es erst vieler
Worte und Unterweisungen bedarf, so sind die gesamten Schulwissen-
schaften („&yxuxlı0g maıdela“) unnütz und hören auf, gelehrt zu wer-
den; — da alle naturgemäfs aufwachsen, so werden auch die Gymna-
sien abgeschafft, — und da Jeder weils, zu wem er pafst, so ist das
Band der Ehe überflüssig, und auch bei der Regelung der Beziehungen
von Mann und Weib wird der Natur und der Freiheit weitester Spiel-
raum gewährt; — und ebenso ist da, wo alle das wahre Verhältnis zu
Gott gefunden haben und sich durch ihren Lebenswandel der besten Gottes-
verehrung befleifsigen, keine staatliche Organisation des Gottesdienstes
und kein Tempel nötig; — und schliefslich wird, um in die materielle
Sphäre herabzusteigen, kein Geld und kein Tauschmittel mehr gebraucht,
da sich aller wirtschaftlicher Verkehr durch unmittelbare Übergabe der
begehrten Produkte in Güte vollzieht.
Hier ist also die ganze Menschheit in ihrer Vollendung gedacht,
Alles, was Zwang heifst, ausgeschaltet, der innere moralische Trieb als
alleiniger, aber auch vollkommen ausreichender Regulator für den Ein-
zelnen wie für die Gesamtheit dargestellt.
= So ist Zeno durch seinen grübelnden Sinn und seine mafslos aus-
schweifende Phantastik dazu gekommen, aus dem philantropisch -natur-
rechtlichen Prinzip der eynischen Schule alle Konsequenzen zu ziehen,
mit denen diese Schule selber noch aus altgriechischem politischen In-
stinkt zurückgehalten hatte: und damit ist zum ersten Male in der
Weltgeschichte die Theorie-des-Anarehism us_entwickelt. {
Nach alledem ist für Zeno als Soziologen die gieiche Charakte-
ristik zutreffend, wie für Zeno den Philosophen: „Er ist, von dem Cynis-
mus ausgehend, ohne je die Fühlung mit ihm zu verlieren, allmählich
und nicht sprungweise wie ein Eklektiker zu einer eigentümlichen Philo-
sophie gelangt; aus dem Keime der antisthenischen Lehre hat sich seine
ADLER, Sozialismus und Kommunismus,