Full text: Bis zur französischen Revolution (1. Abteilung, 3. Band, 1. Teil)

8% Erster Teil. Zweites Buch. 
2. Würdigung ihrer Lehre. Diese Sozialtheorie stellt im Grunde eine 
Naturrechtsphilosophie dar, die in einem Leben nach Art der Tiere ein 
Gebot Gottes und zugleich ein Ideal menschlicher Gesellschaft erblickt: der 
Ausflufs einer Betrachtung der Natur, die ın ihr blofs das als Endresultat sich 
dem Auge darbietende Gleichgewicht der Kräfte ins Auge fafst und dieses 
fälschlich zur Harmonie idealisiert, während der in der Natur tobende 
Kampf übersehen wird. Es ergiebt sich so eine politisch-soziale Doktrin, 
die sich prinzipiell völlig mit dem modernen sogenannten „kommunistischen 
Anarchismus“ deckt: Jeder macht, was er will, unter der Voraussetzung, 
dafs Alle die gleichen Ansprüche auf Alles geltend machen können, 
— der eine Satz enthält das anarchistische, der andere das kommunistische 
Axiom. Bei der in Rede stehenden Sekte, die übrigens die Konsequenzen 
ihrer Lehre auch praktisch geübt haben soll, waren in diesem Punkte 
natürlich nicht christliche Einflüsse geltend, denen solcher Libertinismus 
gänzlich fern gelegen haben würde, sondern offenbar gewisse Lehren 
der griechischen Philosophie, also in erster Linie die Naturbetrachtung 
der eynischen Schule, die anarchistischen Ideen Zenos und wohl auch 
mifsverstandene platonische Ideen von der Güter- und Weibergemeinschaft. 
Ganz besonders wird dies klar, wenn man bedenkt, wie speciell das 
Prinzip der Weibergemeinschaft dem ganzen sittlichen Wesen und dem 
Grundgedanken des Christentums zuwiderläuft, während Plato, der 
Cyniker Diogenes und der Stoiker Zeno es empfohlen hatten. Doch ist 
es natürlich heute angesichts des trümmerhaften Zustandes der Quellen 
nicht mehr möglich, im einzelnen nachzuweisen, von wo die Bausteine 
des fraglichen Systems hergenommen sind. 
Die Vertreter des rechtgläubigen Christentums mufsten selbstverständ- 
lich gegen die kompromittierenden Ansichten dieser Sekte entschieden 
Front machen: Clemens wandte sich schaudernd ab von der hier pro- 
pagierten Weibergemeinschaft, wovon „% EylOoTN %atd TOO ÖVOUATOG 
&000n Blaocgpnula“, — und Irenäus erklärte gar ihre Lehre für eine 
Maske, die Satanas angenommen, um durch solch ein Zerrbild die Heils- 
wahrheit der Kirche zu diskreditieren. 
So hat die christliche Gemeinde diese Sekte gleich den anderen 
gnostischen Schulen ausgeschieden und dadurch überwunden, — was 
notwendig war, wenn sie ihre historische Aufgabe, die Eroberung der 
Welt. erfüllen sollte. — 
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