Drittes Buch. Kommunismus und Anarchismus
als Konsequenzen christlich-reformatorischer Tendenzen.
1. Kapitel. Die soziale Frage im Mittelalter.
l. Die soziale Frage in der Stadt. Das Glück der Cäsaren war ge-
scheitert, das Reich der weltbeherrschenden Roma in Trümmer geschlagen,
das Licht der antiken Kultur erloschen, und erst ganz allmählich, in der
langen, schweren Nacht rasender Völkerstürme, gelang es, das Fundament
einer neuen Kultur und Staatsordnung zu legen. Bis sie aus primitiven
Anfängen heraus zu fester Gestaltung gekommen waren, vergingen aber-
mals Jahrhunderte; und so war längst das zweite Jahrtausend unserer
Zeitrechnung angebrochen, ehe die neue. christlich - germanische Gesell-
schaft die in ihr ruhenden Keime zu voller Entwickelung gebracht hatte.
Sobald aber dieser Zeitpunkt eingetreten war, mufste die mittelalterliche
Gesellschaft genau wie vorher die antike die ihr eigentümliche Klassen-
schichtung, Gegensätzlichkeit der Interessen und soziale Frage heraus-
bilden. Für deren speeifische Form war natürlich in erster Linie die wirt-
schaftliche Struktur jener Epoche mafsgebend, die durch den Kleinbetrieb
in Landwirtschaft und städtischem Gewerbe charakterisiert ist.
In den Städten, denen wir uns zunächst zuwenden, herrscht das
zünftige Handwerk und damit der Mittelstand, der eifrig und mit Erfolg
darauf bedacht ist, in der beruflichen Organisation und der städtischen
Wirtschaftspolitik ein seinen Interessen möglichst genau angepafstes Milieu
zu schaffen. Ausdrücklich erklärt die Zunft, deren Mitglieder allein be-
rechtigt waren, zu produzieren, für ihre Absicht, dafs „sich einer by dem
andern dester bass (besser) erneren möge“ (wie es in einer alten Strafs-
burger Zunfturkunde heifst): Demgemäfs darf Keiner den Betrieb allzu-
sehr vergröfsern und die ganze Kundschaft an sich reiflsen, mufs Jeder
loyaler Konkurrenz sich befleifsigen, ist die Aufnahme stadtfremder Ele-
mente unter die Zahl der zünftigen Meister sehr erschwert. Diese Wirt-
schaftsorganisation mufste aber ihren Zweck um so mehr erreichen, als
sie den Zwischenhandel auf jede nur mögliche Weise zu erschweren suchte.
Die ungemein praktische volkswirtschaftliche Anschauung dieser
Epoche schied nämlich streng die unmittelbar produzierenden Elemente
von denen, die sich blofs den Vertrieb der Produkte zur Aufgabe stellten,
und, von der Annahme ausgehend, dafs der Zwischenhandel jede Ware
unnötig verteuere, suchte sie nach Möglichkeit überall den Produzenten
in direkte Verbindung mit dem Konsumenten zu bringen. Das geschah
ADLER, Sozialismus und Kommunismus.