Der Firnisüberzug
einer ebenen Fläche mit allen anderen Farben lag, mußte als Ganzes
unbedingt seinen flächigen Charakter wahren. Das konnte es nur da-
durch, daß es nach seiner Vollendung mit einer Firnisschicht überzogen
wurde, die die Farbe gleichmäßig zum Leuchten brachte und wohl
oder übel auch das Gold deckte. Bei der bemalten Plastik lag der Fall
anders. Hier wurde das Auf und Ab der Tiefen und Höhen wirkungs-
voll durch den Kontrast des glänzenden Blattgoldes und der matt da-
nebenstehenden Farben unterstützt, ja, der stoffliche Charakter der
Gewänder wurde gerade durch das Mattbleiben der Farbflächen aufs
glücklichste gesteigert. Es ist also zum mindesten zweifelhaft, ob in
den Tagen der Gotik ein einheitliches Firnissen aller Farbteile einer
bemalten Figur üblich war. Alle Fleischteile jedoch mußten einen Fir-
nisüberzug erhalten, auch der roten und grünen Farbe konnte der durch
das Firnissen entstehende Glanz nicht schaden. Nur für die blaue Farbe,
die auch heute an gotischen Fassungen in mattem Zustande am schön-
sten wirkt, dürfte eine Ausnahme zu machen sein. Es besteht immer-
hin die Möglichkeit, daß das himmelblaue Futter der goldenen Ge-
wänder beim Firnissen einer Figur ausgespart wurde.
Sehr geteilt sind die Meinungen darüber, ob die glanzvergoldeten Teile
eines Bildwerkes gefirnißt waren oder nicht. In gewissem Sinne beein-
trächtigt jeder Firnis die leuchtende Wirkung desGlanzgoldes, das, noch
dazu in der Blattstärke des gotischen Goldes, viel weniger als die far-
bigen Teile eines schützenden Überzugs bedarf. Aber vielleicht war ge-
cade der Umstand, daß ein über das Glanzgold gelegter Firnis seine alles
üibertönende, beinahe aufdringliche Wirkung etwas milderte, ein Grund
dafür, es zu firnissen. Es kann sehr gut möglich sein, daß daher die ver-
goldeten Teile oftmals einen Firnisüberzug erhalten haben. Versilberte
Stellen einer Figur mußten, wegen der Gefahr des Oxydierens, gleich
nach dem Polieren gefirnißt werden.
Auch über die Zusammensetzung des für eine bemalte Skulptur be-
stimmten Firnisüberzuges sind die Meinungen geteilt. Ohne weitere
Schwierigkeit konnte jeder in den alten Rezepten angegebene Firnis
für Temperafarben') zum Überziehen einer gefaßten Figur in Anwen-
dung kommen. Andererseits liegt es nahe, anzunehmen, daß die Farb-
teile einer Skulptur mit einer dünnen Lösung von weißem Schellack in
t) Vol Ueronders das Rezept für einen Temperaifenis in. der Schedula, Kapitel 23, eiche Anhang,
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