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Mt gleichjan den Stoff gefammelt, fo drängt es ihn in
tefiter Seele, denjelben zu verarbeiten, geiftig zu verdauen,
‘Hm eine men]chliche, gemüthliche Seite abzugewinnen. Wenn
er fertig ijt mit feiner Verarbeitung, |o reproducirt er
jene Erfahrung in feinem Kunftwerke. Diefes Kunftwerk
it im höchften Sinne feine Schöpfung geworden. ES {ft
das Wort, wie Pindar fpricht, welches die Zunge mit der
Mufen Sunft aus den Tiefen der Seele gejhöpft hat.
3 trägt in allen Zügen den Stempel feines Seijtes an
lich; e8 ijt ein Stück feines Leben8 felber. Wie eine reif-
gewordene Frucht it eS von ihın abgefallen. Ieden Be-
ichauer, Hörer oder Lefer zwingt eS in eine ähnliche Stim-
mung Ginein, wie fie der Künftler während feiner Arbeit
Hatte. Diejfe Stimmung nennt man die Idee des Kunft-
yerfes. Bom Anfange der Arbeit an bis zum Schluffje
hegleitet fie den Künftler, und e8 gehört zu den vor-
nehnıften Kennzeichen des wahren Genius, daß gleich in
der erften, dunkeln Totalidee alle Züge des nachmaligen
vollendeten Werke3 al8 Keime verborgen liegen. Völlig
far wird fihH der Künftler felbft erft bei der Vollendung
werden. So gewaltig treibt ihır die Natur! Darum hat
“hon Demokrito3 gelehrt, daß jeder große Dichter von
einer Art Wahnfinn ergriffen fei. Yu Platon gedenkt
einer alten Sage, daß der Dichter, wenn er auf dem
Dreifuße der Mufen fibt, nicht bei Sinnen fei, und einer
Auelle gleich, wa8 immer hHerbeifommt, willig dahinjirömen
fafje. So tft auch die Anrufung der Mufje hei den ältern
Gellenen, des Heiligen Seifte8 in unjerm Mittelalter in
der Reael vollkommen ernftlidh gemeint.