Zweites Buch: VI.
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VI.
Es ist Thatsache, daß um die Mitte des elften Jahrhunderts
in Italien und Frankreich ein neuer Aufschwung des wissen—
schaftlichen Denkens als eine erhebliche Ueberbietung des Caro—
lingischen Reformationswerks erkennbar wird. Von da bis zum
Ende des Mittelalters ist im Allgemeinen die Continuität des
Verlaufs ebenso sicher nachweisbar als jener erste Anfang dunkel.
Die bisherigen Erklärungen!), als Versuche anerkennenswerth, sind
gleichwohl unbefriedigende. Die Berufungen auf die Impulse,
welche von Gerbert und den Arabern in Spanien ausgegangen
sein sollen wie von Constantinus von Carthago, dem unermüd—
lichen Orient-Wanderer, der mit literärischen Schätzen reich be—
laden von dort heimgekehrt, unter Abt Desiderius (1008 -1087)
in Monte Casino?) sich niedergelassen und als Uebersetzer thätig
gewesen sein solls), kann ich nur als Ausflüchte der Verlegenheit
betrachten. Denn, was den letztern angeht, so wissen wir über die
Werke, welche er zu seinen Versionen auswählte, und über deren
Verbreitung nichts Genaueres. Nur vermuthungsweise ist die Be—
kanntschaft mit der einen oder anderen der angeblich von ihm über—
setzten Schriften arabischer Philosophen bei Wilhelm von Hirschau
angenommen?), und auch dieses nur unter der keineswegs gesicherten
Voraussetzung, daß ein auf uns gekommenes philosophisch-astrono—
misches Werk diesem Wilhelm angehöre. Ueberhaupt scheint der
Bericht über Constantin grade durch das augenscheinlich Ueber—
treibende verdächtigt zu werden; am wenigsten zweifelhafts)
dürfte das vorwiegende Interesse des maßlos Gefeierten für die
Naturwissenschaft sein. Das Schöpferische, was dem universellen
Genie Gerbert:s beiwohnte, wurde so eben erst anerkannt. Man
mnag weiter erwägen, daß eben der Wechsel des Aufenthalts ge—
eignet war, die Verbreitung seiner Lehre zu beschleunigen: zahl⸗
reiche Schüler sollen wiederum erziehende Lehrer geworden seins).
Indessen so hoch man alles Dieses schätzen mag, ein so hervor—