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Gradmesser der Vernünftigkeits) zu gelten. — Mag dieser Wider—
spruch gelöst werden oder nicht, so bleibt davon unberührt der
Satz: „die Wahrheit“ ist nicht ein Transcendentes, Uebernatür—
liches, durch göttliche Offenbarung zu Enthüllendes. Dieselbe
wurzelt freilich in Gottꝰ), ist aber ebenso nothwendig wie Er;
ihre Göttlichkeit nichts Anderes als ihre Nothwendigkeit, diese
untrennbar von der Allgemeinheit. Darum muß in jedem Falle
die Menschennatur durch ihre natürliche Organisation befähigt
sein sich ihrer zu bemächtigen; die Wahrheit die unveräußerliche
Mitgift dieser selbst sein und bleiben. Und da die Vernunft eben
das ausmacht, was die Gottebenbildlichkeit bedingt 10), diese als
das Höchste der persönlichen Creatur zu schätzen ist, so kann jene
nirgends anderswo ihre Stätte haben als in ihr. Die Vernunft
muß sei es eins sein, sei es eins werden mit der Wahrheit;
die eine der anderen so immanent 11) sein, daß beide wenigstens
sich decken können. Nicht eine göttliche und eine menschliche,
sondern jene einige Wahrheit giebt es, welche sich ausprägt in
der Vernunfterkenntniß und in dem Gewissen. Nur so erklärt
es sich, daß die Redeweise „gegen die Wahrheit“ mit den andern
„gegen die Vernunft“, „gegen vernünftige Gründe“, „gegen das
Gewissen“ wechselt; das Eine ebenso scharf betont wird als das
Andere 12). Um so auffälliger erscheint es, daß der nämliche
Lehrer, welcher somit die allgemeine Herrschaft der Vernünftigkeit
scheint anerkennen zu müssen, daneben über die Unvernunft der
Mehrzahl seiner Zeitgenossen, die Blindheit des großen Haufens
so bitter klagt; das eine Mal jene als ein Gemeingut der Men—
schennatur, das andere Mal als den besonderen Besitz nur der
Gebildeten, bald als ein Offenbares, bald als ein Geheimes be—
trrachtet.
Zweites Buch: XI.
Die Richtigkeit des Einspruchs gegen die Transsubstantia⸗
lionslehre soll Jedem mit derselben Evidenz einleuchten wie den
Kindern die ersten Elemente des Rechnens, und doch ist der ganze
theoretische und practische Abendmahlsstreit ein Zeugniß dawider.