Full text: Geschichte der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1. Band)

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Gradmesser der Vernünftigkeits) zu gelten. — Mag dieser Wider— 
spruch gelöst werden oder nicht, so bleibt davon unberührt der 
Satz: „die Wahrheit“ ist nicht ein Transcendentes, Uebernatür— 
liches, durch göttliche Offenbarung zu Enthüllendes. Dieselbe 
wurzelt freilich in Gottꝰ), ist aber ebenso nothwendig wie Er; 
ihre Göttlichkeit nichts Anderes als ihre Nothwendigkeit, diese 
untrennbar von der Allgemeinheit. Darum muß in jedem Falle 
die Menschennatur durch ihre natürliche Organisation befähigt 
sein sich ihrer zu bemächtigen; die Wahrheit die unveräußerliche 
Mitgift dieser selbst sein und bleiben. Und da die Vernunft eben 
das ausmacht, was die Gottebenbildlichkeit bedingt 10), diese als 
das Höchste der persönlichen Creatur zu schätzen ist, so kann jene 
nirgends anderswo ihre Stätte haben als in ihr. Die Vernunft 
muß sei es eins sein, sei es eins werden mit der Wahrheit; 
die eine der anderen so immanent 11) sein, daß beide wenigstens 
sich decken können. Nicht eine göttliche und eine menschliche, 
sondern jene einige Wahrheit giebt es, welche sich ausprägt in 
der Vernunfterkenntniß und in dem Gewissen. Nur so erklärt 
es sich, daß die Redeweise „gegen die Wahrheit“ mit den andern 
„gegen die Vernunft“, „gegen vernünftige Gründe“, „gegen das 
Gewissen“ wechselt; das Eine ebenso scharf betont wird als das 
Andere 12). Um so auffälliger erscheint es, daß der nämliche 
Lehrer, welcher somit die allgemeine Herrschaft der Vernünftigkeit 
scheint anerkennen zu müssen, daneben über die Unvernunft der 
Mehrzahl seiner Zeitgenossen, die Blindheit des großen Haufens 
so bitter klagt; das eine Mal jene als ein Gemeingut der Men— 
schennatur, das andere Mal als den besonderen Besitz nur der 
Gebildeten, bald als ein Offenbares, bald als ein Geheimes be— 
trrachtet. 
Zweites Buch: XI. 
Die Richtigkeit des Einspruchs gegen die Transsubstantia⸗ 
lionslehre soll Jedem mit derselben Evidenz einleuchten wie den 
Kindern die ersten Elemente des Rechnens, und doch ist der ganze 
theoretische und practische Abendmahlsstreit ein Zeugniß dawider.
	        
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